Daniela Krien, Die Liebe im Ernstfall

Ein Buch über fünf Frauen, überwiegend für Frauen? Männer kommen in diesem Buch schlecht weg. Sie sind verbissene Weltverbesserer, Wankelmütige, Weicheier und Fremdgeher – Ausnahmen bestätigen die Regel. Jede der fünf Frauen sehnt sich nach einer intakten Beziehung, doch alle kämpfen mit den Widrigkeiten der Liebe, mit Verletzungen, Verlusten und Brüchen, jede auf ihre ganz eigene Art und Weise. Es ist ein Kreislauf des Scheiterns, denn die Frauen stehen alle in einer Beziehung zueinander und was die eine gerade schmerzlich durchmacht, hat sie der anderen vielleicht selber zugefügt. Das ist perfekt analysiert und mit guter Beobachtungsgabe sprachgewandt auf den Punkt gebracht. Teilweise bissig, teilweise mit liebevoller Anteilnahme, immer sehr genau. Kriens Devise: „Man muss die Liebe vom Ernstfall aus betrachten.“ Ihr Interesse gilt also dem, was passiert, wenn das Leben grausam zuschlägt. Ihre Sichtweise ist kritisch: „Alle Erwachsenen richten je nach Grad ihrer Beschädigung mehr oder weniger Unheil in dieser Welt an.“

In jeder Frau findet man ein Stück von sich, findet man Gedankengänge, die einem vertraut sind. Allerdings auch vieles, was mir persönlich eher fremd ist. Was es aber interessant macht: Jede Lebensgeschichte wird von mehreren Seiten beleuchtet. Alle fünf Frauen sind miteinander verbunden und ihre Geschichten werden nacheinander erzählt, aber jeweils aus der Perspektive einer anderen. Und so etwas wie Frauensolidarität gibt es auch und damit einen optimistischen Ausblick – im Dankeswort schreibt die Autorin, dass ihre Tochter ein Faible für Happyends hat und dass sich das niedergeschlagen hat. Für dieses halbwegs positive Ende bin ich dankbar. Trotz aller Aufgeschlossenheit, die vom Leben geschlagenen Wunden nicht zu leugnen, sondern sehr wohl genau hinzugucken – zu düster wäre mir sonst die Grundstimmung gewesen. 

Die einzige Geschichte, Julian Barnes

Ein besonderes Buch. Nicht leicht verdaulich, tiefgründig, kunstvoll. Der 19-jährige Protagonist Paul lernt beim Tennis-Doppel Susan kennen. Sie ist verheiratet, Mutter von zwei Töchtern und sie ist Ende Vierzig. Eine Mesalliance für seine Umwelt. Für Paul eine wunderbare, logische und zwingende Liebe. Die sich im ersten Teil des Buches für das Liebespaar erfreulich entwickelt, im zweiten Teil eine dramatische Wendung nimmt und im dritten Teil fast ausschließlich aus Pauls Reflexionen über sein Leben und diese eine Liebe besteht. Es ist keine klassische Geschichte über die Liebe eines sehr jungen Mannes zu einer sehr reifen Frau.

Immer wieder wird der Erzählfluss durch philosophische Betrachtungen des Autors unterbrochen. Es geht viel um die Frage, wie sehr beeinflusst das, wohin wir gehen, das, woher wir kommen. Und um das Thema Schuld. Und natürlich geht es vor allem um die Liebe. Im Verlaufe der Geschichte wechselt Barnes die Erzählperspektive – im ersten Teil erzählt Paul in der Ich-Form, dann geht er zum Du über, und im dritten Teil berichtet er in der dritten Person Singular. Um seine wachsende Selbstentfremdung zu verdeutlichen? Seine Distanz zum Erlebten? Das ist etwas irritierend, aber es passt sehr wohl ins Gesamtkonzept. 

Susan bleibt leider etwas blass als Person. Da hätte ich gerne mehr erfahren – warum verliebt sie sich in Paul, was bedeutet er ihr, wie problematisch ist diese Liebe für sie, ist das, was dann mit ihr geschieht, der Preis für diese Liebe? Man könnte diese Geschichte mit Fug und Recht als deprimierend bezeichnen. Zum Glück lässt der Autor aber auch immer wieder britischen Humor mit einfließen. Und ich habe festgestellt, das Erzählte geht mir längst nicht so nah wie die Geschichte der St. Louis im vorigen Beitrag … 

Das Erbe der Rosenthals, Armando Lucas Correa

„Ich war knapp zwölf, als ich mir vornahm, meine Eltern umzubringen.“ So fulminant beginnt die Geschichte der zwölfjährigen Hannah, die im Jahr 1939 spielt. Ihre jüdische Familie schifft sich auf der Flucht vor den Nazis auf dem berühmt-berüchtigten Ozeandampfer St. Louis ein. Kurz darauf wird die zwölfjährige Anna dem Leser nicht weniger dramatisch vorgestellt: „An dem Tag, an dem mein Vater für immer verschwand, war meine Mutter mit mir schwanger.“ Anna begibt sich 2014 auf Spurensuche nach der Familie ihres bei 9/11 umgekommenen Vaters. Die Lebensgeschichten der Mädchen berühren sich, verschachteln sich mit zunehmender Lesedauer, so dass wir Hannah bis ins hohe Alter begleiten. Und obwohl es um lange Zurückliegendes geht, ist die Story von bedrückender Aktualität.

Ausgangspunkt der Geschichte war für den Autor das Drama der St. Louis, eines großen Ozeandampfers, der sich 1939 mit über neunhundert (meist jüdischen) Menschen an Bord auf die Reise macht, um die Passagiere vor Nazi-Deutschland in Sicherheit zu bringen. Doch in Havanna lässt man nur einzelne Passagiere von Bord …

Beide Mädchen erzählen in der Ich-Form, das macht es sehr berührend. Beide haben Mütter, die es ihnen nicht einfach machen, die über ihrer Trauer und Verzweiflung öfters ihre Töchter vergessen. Das Buch ist kunstvoll konstruiert, aber leicht und spannend zu lesen und gleichzeitig sehr schwere Kost, weil es einem so nahegeht. Wenn auch die Geschichte an sich fiktional ist, so beruht sie doch auf einer wahren Begebenheit. Und das Schicksal der Flüchtenden erinnert fatal an das aktuell aus dem Meer geretteter Flüchtlinge, die kein Land aufnehmen will.

Im umfangreichen Anhang erläutert der Autor die geschichtlichen Zusammenhänge, ergänzt um die Passagierliste der St. Louis mit Fotos fröhlich dreinschauender Menschen. Man sieht ihnen an, sie hatten ihre ganze Hoffnung in eine bessere Zukunft gesetzt. Wer sich für weitere Details interessiert, wird im Internet fündig, ich will hier nicht zu viel vom Plot verraten. Unbedingt lesenswert! Und auch gut als Film vorstellbar.

Kazuo Ishiguro, Was vom Tage übrig blieb

England in den 30iger Jahren des vorigen Jahrhunderts: Der Butler Stevens widmet sein Leben mit absoluter Hingabe bis zur Selbstverleugnung seinem Dienstherrn Lord Darlington. Seinen eigenen Stand und Hierarchien stellt der Butler niemals in Frage. Oberflächlich betrachtet geschieht wenig, der Butler reflektiert auf einer mehrtägigen Reise sein Leben. Ein Buch, bei dem es gut ist, viel am Stück zu lesen, damit man in den Rausch dieser Sprache gerät. Die Sätze sind lang und oft etwas umständlich, sie spiegeln perfekt die britische Aristokratie jener Zeit wieder. Die komplette Szenerie am Schauplatz Darlington Hall ist korrekt, steif und ehrwürdig.

Es geht über weite Strecken um Stevens Selbstverständnis als Butler. Was ist seiner Meinung nach ein großer Butler, und wo sieht er sich selber? Sein Arbeitsplatz ist in einem der großen Häuser, das verbucht er auf der Haben-Seite, denn: „Für uns (Butler) also war die Welt ein Rad, dessen Nabe die großen Häuser waren“. Er selber ist bei einem Dienstherrn, „der alles verkörpert, was ich edel und bewundernswert finde.“ Dennoch taucht die Frage auf, muss ich eigentlich mit den Werten meines Arbeitgebers zu Hundert Prozent einverstanden sein, um gute Arbeit zu leisten? Eine Frage, die zunehmend an Bedeutung gewinnt …

Dann ist da noch Stevens’ Beziehung zu Miss Kenton, der Haushälterin auf Darlington Hall – mehr als eine Arbeitsbeziehung? Das Buch ist ein (faszinierendes) Paradebeispiel für fehlende bzw. misslungene Kommunikation. Der Austausch zwischen Butler und Haushälterin besteht aus einer Abfolge verklausulierter Wortwechsel und unterdrückter Gefühle. Manchmal möchte man den Butler schütteln, wenn er rückblickend sinniert: Gewiss deutete doch damals nichts darauf hin, dass solch offenkundig geringfügige Zwischenfälle ganze Träume für immer unerfüllbar machen würden.“ Als es auf das Wiedersehen mit Miss Kenton zusteuert, wechselt der Erzähler Stevens vom „ich“ zum „man“ und drückt damit so viel aus!

Wer England in sein Herz geschlossen hat, ein Faible für Downton Abbey hat und diese Sprache mag, wird das Buch sehr genießen. Ungefähr nach der Hälfte der Lektüre des Buches habe ich den Film gesehen – und ist es sonst so, dass ich entweder das eine oder das andere deutlich besser finde, so könnte ich ausnahmsweise einmal nicht sagen, dass mir eins von beiden besser gefallen hätte. Die beiden Medien haben sich auf kongeniale Weise ergänzt. Beides ist meisterhaft!

Anne Gesthuysen, Mädelsabend

Eine schöne Geschichte, die sich sehr langsam entwickelt und die wieder in Gesthuysens Heimat, am unteren Niederrhein, spielt. Eigentlich sind es zwei Geschichten, über zwei Frauen unterschiedlicher Generationen, und das macht es auch so interessant. Denn Gesthuysen verknüpft geschickt die Probleme, mit denen Enkelin Sara sich in der Gegenwart herumschlägt mit denen ihrer Großmutter Ruth – zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs und aktuell, im hohen Alter.

Ruth lebt mit ihrem Mann Walter, beide in den späten Achtzigern, nach einem Sturz in einem Haus für Betreutes Wohnen. Ruth blüht auf und genießt die vielen sozialen Kontakte und die Möglichkeiten, die ihr das Heim bietet, endlich kann sie wieder im Chor singen. Ihr Mann beäugt die Aktivitäten seiner Frau äußerst kritisch und möchte am liebsten sofort zurück nach Hause. Enkelin Sara lebt mit ihrem Partner und ihrem kleinen Sohn in Düsseldorf. Als sie die Zusage für ein Forschungsstipendium in Cambridge erhält, stürzt sie das in Gewissenskonflikte. Familie oder Karriere?

Langsam entrollt die Autorin die Lebensgeschichte von Ruth, die überwiegend eine Geschichte ihrer Ehe ist und die der Familie, in die sie eingeheiratet hat. Was für ein Mistkerl, dachte ich, als es um Ruths Schwiegervater ging. Du meine Güte, Frauen mussten früher viel aushalten, als sie ihrem Mann noch „untertan“ waren. Nach fünfundsechzig Jahren Ehe fragt sich Ruth nun, ob sie überhaupt nachholen kann, was sie versäumt hat. Und Enkelin Sara schwankt zwischen dem Wunsch nach Selbstverwirklichung und ihrer Sehnsucht nach einem geregelten Familienleben.

Den Stil von Gesthuysen finde ich eher schlicht. Zum Glück bietet sie keine einfachen Lösungen und kein Friede-Freude-Eierkuchen Ende. Jede Frau muss ihren eigenen Weg finden, das ist die Botschaft, die gut hergeleitet wird. „Arbeite dich nicht an irgendwelchen Theorien ab“, sagt Saras Vater zu seiner Tochter, ein Satz, der mir gut gefällt. So spannt das Buch einen schönen Bogen über siebzig Jahre Frauenleben und ist eine nette Lektüre. Als Niederrheinerin gefallen mir natürlich auch die Dialekt-Einsprengsel. Würde ich Sterne vergeben, wären es drei.

Anne B. Ragde, Sonntags in Trondheim

Nun hat sie doch eine Fortsetzung der Lügenhaus-Serie geschrieben! Zur Erinnerung: Das war die wunderbare, sehr erfolgreiche Trilogie, die in Norwegen auf einem Hof spielt und sich um eine ziemlich kaputte, aber überaus liebenswerte Familie dreht, die Neshov-Sippe. Eine Fortsetzung, juchhu – oder doch nicht? Die Neshovs, das sind Erlend und Margido und ihre Nichte Torunn, die Anerbin, – und natürlich die schon verstorbenen, aber eigentlich immer präsenten anderen Mitglieder der Familie. 

Ich habe ein bisschen gebraucht, um mich wieder einzulesen. Erlend und sein Mann Krumme haben inzwischen drei Kinder, die sie gemeinsam mit den Müttern Jytte und Lizzi aufziehen. Die Beschreibung des Alltags mit den Kleinen fand ich anfangs manchmal etwas aufgesetzt lustig, und ich zweifelte, ob es so schlau war, die Trilogie fortzusetzen. Aber irgendwann war ich wieder richtig drin in dieser abgedrehten Familie und konnte den ganz besonderen Schreibstil der Anne Ragde genießen. Richtig gut gefiel es mir dann, als es um Margido ging, den Bestattungsunternehmer, und die Beschreibung seines (beruflichen) Alltags. Und als seine Nichte Torunn wieder ins Spiel kam, die Anerbin des Hofes, die am Ende der drei Bände überstürzt abgehauen war. Diese beiden Charaktere sind wunderbar und mit so viel Einfühlungsvermögen gezeichnet, dass ich bei allen ihren Schritten dabei war und mitgefiebert habe. Mir wurde immer wärmer ums Herz und ich war traurig, als ich zu Ende gelesen hatte.

Mein Fazit: Ich finde des super, dass Ragde die Lügenhaus-Serie, anders als von ihr angekündigt, doch noch fortgesetzt hat. Die Trilogie endete seinerzeit doch sehr abrupt. In diesem vierten Band  erfährt man, wie es bei allen Beteiligten weiterging – es ist stimmig und schön zu lesen. Ich kann allerdings nicht beurteilen, ob man diesen Lesespaß auch hat, wenn man die Bände vorher nicht kennt. Also am besten alle vier lesen! https://ilsebillslesezeichen.de/?s=Anne+B.+Ragde

Zufällig habe ich gerade entdeckt, dass es seit kurzem noch einen fünften Band gibt! Der kommt auf die Lese-Liste …

Greta Silver, Wie Brausepulver auf der Zunge

Ich habe dieses Buch gern gelesen, aber ich bin hin- und hergerissen, wie ich es hier vorstellen soll. „Das Alter ist die tollste Zeit des Lebens,“ sagt Greta Silver auf knapp 200 Seiten. Sie ist gesund, sie sieht absolut super aus, sie ist erfolgreich, sie hat das nötige Kleingeld für ein angenehmes Leben im Alter. Sagt sich das dann nicht schnell: „Lebensfreude ist eine Entscheidung – wir sind nicht hilflos den Lebensumständen ausgeliefert.“ Und ist es dann nicht leicht, alles so rosarot zu sehen? Zum Beispiel, wenn es um die (erwiesene) Macht der Gedanken geht. Silver rät, kurz und bündig: „Denke ausschließlich Positives.“ Sei der „Chef in Deiner Schaltzentrale.“ Mit diesem Appell fürs positive Denken schwimmt sie auf der Erfolgswelle zu diesem Thema. (Beim Googeln „Literatur zum positiven Denken“ erscheinen 804.000 Ergebnisse!) Die Wissenschaft kann die körperlichen und seelischen Vorteile einer optimistischen Lebenshaltung nachweisen. Doch krampfhafter Optimismus und der verzweifelte Versuch, negative Gedanken und Gefühle aus dem Leben herauszuhalten, sind auch nicht gesund. Und lassen jemanden, der sich – aufgrund schlechter Bedingungen – schwer tut, die Dinge positiv zu sehen, womöglich noch schlechter fühlen. Wo es doch angeblich so einfach ist, „mit spielerischer Leichtigkeit das Glück im Leben zu entdecken“. (Klappentext) Wie liest dieses Buch jemand, der krank ist oder finanziell kaum über die Runden zu kommen weiß? So weit die kritischen Gedanken. 

Warum habe ich das Buch dennoch gerne gelesen? Es gibt sehr viele gute Anregungen, lauter Dinge, die man eigentlich weiß, aber die einem doch immer wieder entgleiten und an die man sich gern erinnern lässt. Silver greift die gängigen Themen auf: Umgang mit Schuldgefühlen, blockierende Glaubenssätze, Selbstzweifel, Jammern als Energieräuber, Neid, Disziplin. Und es tut gut, sich einfach (mal) hineinfallen zu lassen in ihre Art, das Leben anzupacken und sich von ihrer Begeisterung und Lebensfreude anstecken zu lassen. Natürlich, sie hat super Bedingungen und Talent fürs Glück. Aber sie hat auch Beachtliches gestemmt in ihrem Leben und auch bei ihr war nicht immer eitel Sonnenschein. Man nimmt ihr ab, dass sie sich bei allem, was ihr (an Negativem) passierte, die Frage stellte: War das jetzt wirklich so schlimm? Und diese Frage in der Regel mit Nein, das war es nicht  beantwortete. Diese Anregung gefällt mir sehr gut.

Dass das Alter eine tolle Zeit sein kann, dem würde ich ohne zu zögern zustimmen. Es fallen viele Beschränkungen weg, man hat viel mehr Freiheiten (wenn man gesund und gut situiert ist …) Sich etwas von ihrem Schwung mitzunehmen und Sorgen, Ängste und Zweifel energischer abzuwehren, den positiven Gedanken mehr Raum zu geben, das Leben mehr zu genießen, dazu inspiriert das Buch auf jeden Fall. 

Hallux Op – 6 Monate danach

„Wie geht’s?“ Diese einfache Frage hat inzwischen für mich eine ganz andere Bedeutung bekommen. Den hohen Stellenwert von Mobilität kenne ich jetzt zur Genüge. An alle Hallux-Mitstreiter: Unterschätzt diese OP nicht! Das gesamte Fuß-Gefüge verändert sich und es ist ein weiter Weg zurück zum normalen Gehen. Ich habe aber viel gelernt, nicht nur über meine Füße, die ich inzwischen deutlich liebevoller betrachte und behandle.

Mein wichtigstes Fazit nach diesen sechs Monaten: Es klafft eine sehr unerfreuliche Lücke zwischen Krankenhaus (OP) und den nachfolgenden Behandlern (Physiotherapie, Spiraldynamik). Ganzheitliche Betrachtung: Fehlanzeige! Nicht nur dass man beim Krankenhaus um Rezepte betteln muss, es fehlen wichtige Hinweise, es gibt widersprüchliche Aussagen – fast alle Tipps habe ich entweder bei den Therapeuten oder durch eigene Recherche erhalten. Ohne ständiges Mitdenken, Ohren aufhalten und ohne sehr sehr fleißiges, tägliches Üben geht gar nichts!

Ich kann inzwischen wieder annähernd normal gehen, ein großartiges Gefühl. Aber der Zeh tut immer weh, es ist eine Mischung aus taub und schmerzhaft. Die Behandler sagen, es dauert bis zu einem Jahr, bis alles wieder richtig gut ist. Wenn es denn gut wird … In meinem Fall könnte eine erneute OP drohen, weil der Zeh immer noch zu hoch steht, die Sehne verkürzt ist. Ich halte mich an den Spruch: „Everything will be okay in the end, if it’s not okay, it’s not the end!“

Weitere Infos und Tipps gebe ich gerne an Interessierte weiter. 

Charlotte Link, Sechs Jahre. Der Abschied von meiner Schwester

Ein Buch, das es in sich hat, das natürlich traurig stimmt, aber auch nachdenklich und wütend. Es geht um das Sterben von Charlotte Links jüngerer Schwester Franziska, das sich über sechs Jahre hinzieht. Immerhin lebt Franziska noch sechs Jahre nach Erhalt der niederschmetternden Diagnose, die ihr den Tod noch im selben Jahr und ein grauenvolles Sterben in Aussicht stellt. Sechs Jahre, das ist durchaus viel in Anbetracht dieser Nachricht, doch was sind sechs Jahre für eine Mutter, die ihre Kinder gerne aufwachsen sehen möchte, fragt Link zu Recht. Manche Passagen sind kaum auszuhalten. Link beschreibt nicht nur die unterschiedlichen Stadien und die drei verschiedenen Krankheitsherde ihrer Schwester (einer schlimmer als der andere), sie beschreibt auch sehr eindringlich, was die Krankheit ihrer Schwester für sie selber und für die anderen Angehörigen bedeutet. Die permanente Angst einen nahestehenden Menschen zu verlieren, ruft bei der Autorin selber teilweise krasse körperliche Symptome hervor. Das liest sich erst etwas befremdlich, doch nachdem man verstanden hat, wie symbiotisch die Beziehung zwischen den Schwestern seit frühester Kindheit gewesen ist, kann man es gut nachvollziehen. 

Natürlich geht es auch viel um das deutsche Gesundheitssystem, in dem vieles im Argen liegt. Patienten mit mehr als einem Symptom haben es im deutschen Klinikalltag unglaublich schwer, weil jedes Problem für sich alleine betrachtet wird und es zu wenig Ärzte gibt, die den Menschen als Ganzes sehen. Es ist unglaublich, wie viele Fehldiagnosen Links Schwester im Verlaufe der sechs Jahre erhält und erschütternd, mit welcher Gefühllosigkeit „Todesurteile“ manchmal ausgesprochen werden. Das betont die Autorin immer wieder, dass sie daran zweifelt, dass tödliche Diagnosen einem auf besonders ehrliche und brutale Weise um die Ohren gehauen werden müssen. Auch wenn die Statistik das schlechte Ende nahelegt!

Link beschreibt, wie die Familie sich anfangs völlig dem Urteil der Ärzte und den Statistiken ausgeliefert fühlt, bis sie es langsam schaffen, sich davon zu emanzipieren. Aber natürlich, das betont sie, treffen sie auch auf wunderbare Ärzte und Pfleger, die voller Empathie den Menschen hinter dem Patienten sehen. Und es tut gut, dass Franziskas letzte Station eine mit positiven Erfahrungen ist.

Das Buch enthält eine ganze Menge hilfreicher Anregungen. So fertigt Link für die im Laufe der Zeit unglaublich umfangreiche Krankenakte ihrer Schwester eine Kurzfassung in Stichpunkten und Jahreszahlen an, damit jeder behandelnde Arzt sich schnell einen Überblick verschaffen kann. Eine super Idee – doch was nützt sie, wenn der Arzt die Akte noch nicht einmal aufschlägt! Und prompt eine Fehldiagnose stellt. Link macht immer wieder Mut sich zu wehren, hartnäckig nachzufragen und auf dem Besten für den Patienten zu bestehen. Und sie ermuntert, sich Unterstützung zu holen. Sie selbst hat eine sehr positive Begegnung mit einem Pfarrer, ihre Schwester profitiert lange von einem Mental-Coach. Und immer wieder betont Link, wie wichtig das Thema Hoffnung ist. Ohne Hoffnung ist der Patient verloren. Da ist sie dann wieder bei dem Thema Umgang und Kommunikation mit dem Patienten – WIE Botschaften übermittelt werden, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Empathie ist das Gebot der Stunde.

„Freu dich doch einfach, dass du atmen kannst“, sagt Franziska an einer Stelle zu ihrer Schwester, als die maulend vor ihrem Kleiderschrank steht und klagt, dass sie nichts zum Anziehen hat. „Du hast es gut. Du darfst leben.“ Das relativiert alle anderen Probleme, mit deren Bewertung wir Gesunden uns so manches Mal das Leben schwer machen …

Hanns-Josef Ortheil, Die Berlinreise

Ich bin Ortheil-Fan und so freute ich mich riesig, als ich kürzlich ein ganz besonderes Werk von ihm entdeckte – ein Reisetagebuch des zwölfjährigen Schriftstellers – voll von klugen Gedanken und frühreifen Lebensweisheiten. „Ich möchte nicht fleißig sein“ erklärt er uns zum Beispiel in wohlgesetzten Worten und mit ausführlicher Begründung. 1964 hat der junge Ortheil eine in jeder Hinsicht beeindruckende Berlin-Reise mit seinem Vater gemacht. Berlin hatte im Leben der Eltern des Jungen viele Jahre eine besondere Rolle gespielt, über die der zwölfjährige Hanns-Josef aber so gut wie nichts wusste. Ebenso kannte er die näheren Umstände der Todesfälle seiner vier älteren Brüder nicht. Er wusste nur, dass seine Eltern vor seiner Geburt vier Söhne verloren hatten. 

Nun also die Spurensuche in Berlin, gemeinsam mit dem Vater – für die Mutter wäre die Reise zu schmerzhaft gewesen – sie ist für den Jungen aber stets präsent. Ununterbrochen macht sich der Zwölfjährige, der später so berühmte Schriftsteller, Notizen und Aufzeichnungen, die er im Nachhinein zu einer Art Reisetagebuch ausarbeitet und seinem Vater widmet. Der Vater nimmt im Laufe der Jahre ein paar kleinere stilistische und orthographische Korrekturen am Text vor, im Großen und Ganzen ist die vorliegende Fassung aber unverändert. „Der kindliche Ton der Darstellung sollte vielmehr mit all seinen Eigentümlichkeiten, Fehlern und Kuriosa erhalten bleiben“, schreibt Ortheil im Vorwort.

Und genau das macht das Buch so besonders. Es sind die unverfälschten Eindrücke eines (begabten) Zwölfjährigen. Der junge Ortheil beschreibt seine Eindrücke vom geteilten Nachkriegs-Berlin: „Alles sah sehr anders aus als im Westen und ein wenig so wie in Zeitlupe oder wie in einem Traum ohne Farben. (…) es war gebremst, stark gebremst, ohne Schwung und ohne richtige Lust“. Und an anderer Stelle: „Wer oder was hat Berlin so verkorkst?“ Gemeinsam bewegen sich Vater und Sohn auf den Spuren der elterlichen Vergangenheit und machen so eine Zeitreise in den Zweiten Weltkrieg, erleben aber auch hautnah die Auswirkungen des Kalten Krieges. Die große schriftstellerische Begabung Ortheils ist schon zu diesem frühen Zeitpunkt bestens erkennbar. Aber er hätte auch Pianist werden können, das deutet sich an, als er sich im Restaurant der Kongresshalle unverrichteter Dinge an den Flügel setzt und ein Stück von Bach spielt. „Ich fetzte es richtig herunter, obwohl ein Blüthner-Flügel eigentlich zu langsam, weich und behäbig ist, um richtig darauf zu fetzen.“

Die besondere Vater-Sohn-Beziehung, die innige Nähe zwischen den beiden, ist ebenso berührend, wie der Versuch des Jungen, eine Verbindung zum früheren Leben der Eltern herzustellen. Langfristig bedeutet das für Ortheil den ständigen Versuch, den „Berlin-Schrecken“ zu verlieren. Die Geschichte dazu geht einem nahe und sie ist unterhaltsam, aufschlussreich und sehr lesenswert.