Hanns-Josef Ortheil, Die Berlinreise

Ich bin Ortheil-Fan und so freute ich mich riesig, als ich kürzlich ein ganz besonderes Werk von ihm entdeckte – ein Reisetagebuch des zwölfjährigen Schriftstellers – voll von klugen Gedanken und frühreifen Lebensweisheiten. „Ich möchte nicht fleißig sein“ erklärt er uns zum Beispiel in wohlgesetzten Worten und mit ausführlicher Begründung. 1964 hat der junge Ortheil eine in jeder Hinsicht beeindruckende Berlin-Reise mit seinem Vater gemacht. Berlin hatte im Leben der Eltern des Jungen viele Jahre eine besondere Rolle gespielt, über die der zwölfjährige Hanns-Josef aber so gut wie nichts wusste. Ebenso kannte er die näheren Umstände der Todesfälle seiner vier älteren Brüder nicht. Er wusste nur, dass seine Eltern vor seiner Geburt vier Söhne verloren hatten. 

Nun also die Spurensuche in Berlin, gemeinsam mit dem Vater – für die Mutter wäre die Reise zu schmerzhaft gewesen – sie ist für den Jungen aber stets präsent. Ununterbrochen macht sich der Zwölfjährige, der später so berühmte Schriftsteller, Notizen und Aufzeichnungen, die er im Nachhinein zu einer Art Reisetagebuch ausarbeitet und seinem Vater widmet. Der Vater nimmt im Laufe der Jahre ein paar kleinere stilistische und orthographische Korrekturen am Text vor, im Großen und Ganzen ist die vorliegende Fassung aber unverändert. „Der kindliche Ton der Darstellung sollte vielmehr mit all seinen Eigentümlichkeiten, Fehlern und Kuriosa erhalten bleiben“, schreibt Ortheil im Vorwort.

Und genau das macht das Buch so besonders. Es sind die unverfälschten Eindrücke eines (begabten) Zwölfjährigen. Der junge Ortheil beschreibt seine Eindrücke vom geteilten Nachkriegs-Berlin: „Alles sah sehr anders aus als im Westen und ein wenig so wie in Zeitlupe oder wie in einem Traum ohne Farben. (…) es war gebremst, stark gebremst, ohne Schwung und ohne richtige Lust“. Und an anderer Stelle: „Wer oder was hat Berlin so verkorkst?“ Gemeinsam bewegen sich Vater und Sohn auf den Spuren der elterlichen Vergangenheit und machen so eine Zeitreise in den Zweiten Weltkrieg, erleben aber auch hautnah die Auswirkungen des Kalten Krieges. Die große schriftstellerische Begabung Ortheils ist schon zu diesem frühen Zeitpunkt bestens erkennbar. Aber er hätte auch Pianist werden können, das deutet sich an, als er sich im Restaurant der Kongresshalle unverrichteter Dinge an den Flügel setzt und ein Stück von Bach spielt. „Ich fetzte es richtig herunter, obwohl ein Blüthner-Flügel eigentlich zu langsam, weich und behäbig ist, um richtig darauf zu fetzen.“

Die besondere Vater-Sohn-Beziehung, die innige Nähe zwischen den beiden, ist ebenso berührend, wie der Versuch des Jungen, eine Verbindung zum früheren Leben der Eltern herzustellen. Langfristig bedeutet das für Ortheil den ständigen Versuch, den „Berlin-Schrecken“ zu verlieren. Die Geschichte dazu geht einem nahe und sie ist unterhaltsam, aufschlussreich und sehr lesenswert.

Astrid Lindgren Louise Hartung, Ich habe auch gelebt! Briefe einer Freundschaft

Briefwechsel sind wunderbare Dokumente – sie bringen einem die Schreibenden nahe und gleichzeitig lassen sie einen unmittelbar am Zeitgeschehen teilhaben. Die berühmte Astrid Lindgren und die ebenso beeindruckende Louise Hartung wechseln zwischen 1953 und 1965 eine Fülle hochinteressanter Briefe. Die beiden lernen sich auf einer von Hartung für Lindgren organisierten Lesereise in Deutschland kennen. Hartung ist begeistert von Pippi Langstrumpf und tut alles dafür, Lindgren in Deutschland bekannt zu machen. 

Mit jedem Brief sind wir abwechselnd in Stockholm und in Berlin – gerade dort ist das natürlich eine äußerst bewegte Zeit: Wiederaufbau, Kennedy-Besuch und -Attentat, Mauerbau. Lindgrens Leben wird neben dem Schreiben stark durch die Familie bestimmt: Kinder, Enkel, alte Eltern. Der Briefwechsel zeigt, wie zerrissen Lindgren teilweise war „ich kann nichts dafür, dass mein Leben in viele viele kleine Stücke zerlegt ist, von denen viele verschiedene Menschen ihr Teil beanspruchen.“ Anfangs leidet man als Leser unter dem Ungleichgewicht der Beziehung: Lindgren will Freundschaft, Hartung will Liebe. Hartung ist alleinstehend, Lindgren hat ihre ständig wachsende Familie, von Hartung als „dein Klan und dein Klüngel“ bezeichnet. Sie klagt, dass sie sich ans Ende einer bestehenden Schlange „einer Boa Constrictor“ anstellen muss und nicht wichtig genug für Lindgren ist. „Der Berliner nennt das am steifen Arm zum Fenster heraushalten.“ Lindgren fühlt sich bedrängt und verteidigt sich …

Im Laufe der Jahre rücken die Frauen aber doch deutlich näher zusammen und machen gemeinsame Reisen. Beim Lesen freut man sich über jedes persönliche Aufeinandertreffen der Freundinnen. Beide schreiben klug und tiefschürfend, mit großem Wissen, aber auch witzig und locker. Über die großen Themen tauschen sie sich ebenso aus wie über die kleinen Freuden und Widrigkeiten des Alltags. So erfährt man viel über das Leben der 50er Jahre in Deutschland und über das Leben der wichtigsten Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts in Schweden; es ist eine tolle Korrespondenz zwischen zwei starken und beeindruckenden Frauen in einer sehr bewegten Zeit. Ich habe jedenfalls intensiv am Leben dieser beiden besonderen Frauen teilgenommen und war sehr traurig, als der Briefwechsel mit Hartungs Tod jäh endet. Es gibt viele Fußnoten, die auf interessante Anmerkungen im Anhang verweisen, ein echtes Zeitdokument, unbedingt empfehlenswert!

Im Laufe der Jahre rücken die Frauen aber doch deutlich näher zusammen und machen gemeinsame Reisen. Beim Lesen freut man sich über jedes persönliche Aufeinandertreffen der Freundinnen. Beide schreiben klug und tiefschürfend, mit großem Wissen, aber auch witzig und locker. Über die großen Themen tauschen sie sich ebenso aus wie über die kleinen Freuden und Widrigkeiten des Alltags. So erfährt man viel über das Leben der 50er Jahre in Deutschland und über das Leben der wichtigsten Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts in Schweden; es ist eine tolle Korrespondenz zwischen zwei starken und beeindruckenden Frauen in einer sehr bewegten Zeit. Ich habe jedenfalls sehr intensiv am Leben dieser beiden besonderen Frauen teilgenommen und war sehr traurig, als der Briefwechsel mit Hartungs Tod jäh endet. Es gibt sehr viele Fußnoten, die auf interessante Anmerkungen im Anhang verweisen, ein echtes Zeitdokument, unbedingt empfehlenswert!

„Zeiten des Aufbruchs“, von Carmen Korn

Zurück in Hamburg – inzwischen schreiben wir das Jahr 1949. Die Geschichte der vier um 1900 geborenen Frauen geht weiter. Der Zweite Weltkrieg ist vorüber, Hamburg ist zerstört. Käthe wird noch vermisst, ebenso wie ihr Mann Rudi. Henny, Ida und Lina versuchen sich ein neues Leben aufzubauen. Das deutsche Wirtschaftswunder kommt langsam ins Rollen. Klaus, Sohn von Henny, bekommt eine eigene Rundfunksendung und da swingt und klingt es ganz wunderbar; mit etwas Wehmut erinnerte ich mich an all die tollen Songs jener Zeit. Und an klangvolle Namen wie Bully Buhlan, Lonny Kellner, Ella Fitzgerald …

Auch beim 2. Band der Trilogie war ich ganz schnell wieder in Hamburg dabei und habe gerne gelesen, wie unterschiedlich sich die Leben der Freundinnen weiter entwickeln. Den Rahmen bilden die Ereignisse jener Jahre: Mauerbau, Kubakrise, Studenten-unruhen. Diese Geschehnisse werden aber nur erwähnt, nicht vertieft.

Wer sich an jene Zeit gut erinnern kann, also ein eher älterer Jahrgang ist ;-), wird Freude an diesem Buch haben. Im Sommer 2018 erscheint der letzte Band der Trilogie, den werde ich sicher auch noch lesen. Und vorher fahre ich für ein paar Tage nach Hamburg, denn das Buch hat in mir mal wieder (die immer latent vorhandene) Sehnsucht nach der Hansestadt geweckt!

Hier geht’s zur Besprechung des 1. Teils.

 

„Unsere wunderbaren Jahre“, von Peter Prange

1948, Währungsreform in Deutschland. Sechs Freunde aus Altena im Sauerland erhalten ihre vierzig DM „Kopfgeld“. Sie sind jung und voller Aufbruchstimmung. Welche Träume werden sie verwirklichen und welche Hoffnungen werden sich erfüllen? Prange begleitet die sechs Haupt-Akteure von 1948 bis 2016 durch die wechselvolle Geschichte Deutschlands. Er verknüpft die persönlichen Schicksale mit dem Zeitgeschehen: Wiederaufbau, Umgang mit den Verbrechen der Nazi-Zeit, Eintreffen der ersten Gastarbeiter, Bau und Fall der Mauer, Einführung des Euro, …

Der eindeutig interessanteste Lebensweg ist der von Tommy, der sich als intelligenter, smarter Typ vom System der DDR blenden lässt und erst Jahre später das Unrechtsregime als solches erkennt.

Stilistisch, na ja. Die Sprache ist teilweise schlicht und in Ansätzen kitschig. Manche Nebenfiguren sind arg stereotyp angelegt, die meisten Hauptfiguren bleiben eher blass. Ab und an gibt es seeeerhr lange Sätze, bei denen ich mich nach einem Punkt sehnte. Aber: Prange schreibt auch sehr süffig, man kann sich richtig in die Story reinfallen lassen. In kurzen bis sehr kurzen Kapiteln (sehr häufig mit Cliffhanger) springt Prange von Person zu Person; im Fokus stehen die drei Schwestern Ruth, Ulla und Gundel und die Freunde Tommy, Bernd und Benno. Sie alle werden ihr Leben lang auf die eine oder andere Art und Weise miteinander verbunden bleiben. Vieles erinnerte mich an das eigene Erwachsenwerden und den (manchmal mühsamen, meist schönen) Weg durchs Leben. „Unsere wunderbaren Jahre“ ist ein Schmöker mit ein bisschen Geschichte und viel Zeitkolorit, also nette Unterhaltungsliteratur!