Soweit die Störche ziehen, Theresia Graw

Nach einer Reihe von Büchern mit schwereren Themen wollte ich mal wieder einen Schmöker lesen, etwas Entspannendes. Historische Romane lese ich gerne, und für diesen hatte ich einen Tipp. Die Geschichte  fängt sehr idyllisch an. Dora, die junge Protagonistin, liebt 1939 das unbeschwerte Leben auf einem Gutshof in Ostpreußen; Gedanken macht sie sich höchstens darum, mit welchem Kleid sie ihren Schwarm Wilhelm am meisten beeindrucken kann. Ihre Figur ist mit Ecken und Kanten gezeichnet und erinnert ein wenig an Scarlett O’Hara. Die Protagonistin steht zwischen zwei Männern, das gehört natürlich zu solch einem Plot. 

Der Zweite Weltkrieg scheint in Ostpreußen zu der Zeit unendlich weit entfernt. Aber wir kennen den Lauf der Geschichte und wissen, dass die Idylle nicht von Dauer sein wird. Der ganze Wahnsinn des Kriegs mit all seinen Ausprägungen überrollt dann auch Dora und ihre Familie, und die junge Frau sieht sich unglaublichen Herausforderungen gegenüber. Die Figur der Dora hat die Autorin an ihre Mutter und an ihre Oma angelehnt, ebenso gibt es Übereinstimmungen mit deren Lebensgeschichten. 

Stimmungen sind wunderbar eingefangen – Landschaften, Jahreszeiten, Gerüche, das Leben auf einem Gutshof, die Flucht über die zugefrorene Ostsee, die Gräuel des Kriegs – man ist immer in der beschriebenen Situation dabei. Das Buch ist gut recherchiert, spannend und liest sich flüssig – die bedrückende Aktualität der Themen Krieg und Flucht muss man allerdings ausblenden für unbeschwerten Lesegenuss. 

Ulrike Renk, Seidenstadt-Saga

Es gibt so viele unterschiedliche Leseererlebnisse! In mein letztes bin ich ein wenig hineingestolpert. Gerade hatte ich noch zu einer Freundin gesagt, ich könnte mir vorstellen, einen Roman über meine Heimatstadt Krefeld, die ehemals berühmte Samt- und Seidenstadt, zu schreiben –  da stoße ich auf eine Buchreihe: Die große Seidenstadt-Saga. Sie spielt in Krefeld und England, und damit war natürlich klar, ich will sie lesen.

Aber zunächst war ich gar nicht begeistert: Umschläge und Titel lassen an Rosamunde Pilcher denken, der Schreibstil ist eher schlicht, Fehler fallen einem nur so entgegen, nur sehr am Rande geht es um Mode und Stoffe und um die Samt- und Seidenzeit Krefelds. Aber ich bin drangeblieben, warum?

Die Romane basieren auf der wahren Geschichte der jüdischen Familie Meyer aus Krefeld, für die nach der Progromnacht 1938 nichts mehr ist, wie es war. Die Autorin stützt sich auf die Tagebücher von Ruth, der älteren der beiden Meyer-Töchter. Die Kindheit von Ruth ist unbeschwert und behütet. Diesem Teil widmet Renk viel Raum, aber dann zieht sich langsam die Schlinge zu, und der Autorin gelingt es unglaublich gut, den Leser die permanente Angst der Juden spüren zu lassen. Man versteht, dass diese Ängste immer Teil des Lebens sein werden, auch noch nach vielen Jahren. Man verfolgt atemlos, wie den jüdischen Menschen immer mehr Freiheiten genommen werden, wie ihnen Kino- und Schwimmbadbesuche untersagt werden, sie ihre Jobs verlieren, ihre Häuser, sie gezwungen werden, ihr Erspartes an das Regime abzutreten. Und man ist mit ihnen gemeinsam fassungslos, dass sich so jemand wie Hitler tatsächlich an der Macht hält, ebenso wie man, genau wie sie, nicht glauben kann, dass die Welt nach den fürchterlichen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs erneut auf einen Krieg zusteuert. Man kennt die Fakten und verfolgt doch ungläubig und erschüttert den Werdegang der Geschichte – und das ist wirklich süffig geschrieben. 

Im Anhang erläutert die (Krefelder) Autorin, wie sie auf das Thema gekommen ist: Bei einem Besuch der Villa Merländer, des Krefelder NS-Dokumentationszentrums, in dem Ruths Tagebücher aufbewahrt werden, traf sie zufällig auf einen Nachfahren Ruths. So wurde die Idee für die Roman-Reihe geboren. Man erfährt auch, dass Ruth Meyer den Kontakt nach Krefeld gehalten hat, 1987 hat sie dort vor Schülern über ihre schrecklichen, unfassbaren Erlebnisse in der Nazi-Zeit berichtet. 

„Alles worauf wir hofften“, von Louisa Young

Äußerst eindringlich beschreibt der Roman (der Originaltitel The Heroes’ Welcome ist viiiel besser!) die äußeren und inneren Verletzungen von Kriegsheimkehrern. Und was ihre Rückkehr von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs für ihre Umwelt bedeutet, die sich völlig hilflos mit völlig veränderten Männern konfrontiert sieht. Das kollektive Aufatmen – der Krieg ist vorüber, lasst uns nach vorne schauen – wird durch die beiden Kriegsveteranen (gerade mal in ihren Dreißigern) empfindlich gestört.

„Sie müssen nur einen Roman über den Ersten Weltkrieg lesen, nämlich diesen,“ rezensiert The Times. Und in der Tat, die Geschichte der beiden Paare hat mich sehr in den Bann gezogen, bewegt und diese (oft vernachlässigte) Seite des Kriegs intensiv  betrachten lassen. Da sind Nadine und Riley, dessen Gesicht mühsam wieder zusammengeflickt wurde und der kaum sprechen und essen kann und das Mitleid, das ihm allerorten entgegenschlägt, nicht erträgt. Und die (einst) wunderschöne Julia und Peter, der völlig verbittert ist und den seine Erlebnisse auf dem Schlachtfeld bis in seine Träume begleiten – wenn sie ihn überhaupt schlafen lassen. Und der es kaum schafft, mit seiner Frau zu kommunizieren, ohne verletzend zu sein:

„Er blickte zu ihr (…) und sah, dass sie, wie nicht anders zu erwarten, diese überraschend freundlichen Worte ernst nahm und sie mit gewaltiger Bedeutung auflud. Oh Gott. Sie brach in Tränen aus. Sag etwas. Aber nicht ’Verpiss dich’. Sag das nicht.“

Werden die beiden Männer es schaffen, wieder Fuß zu fassen? Werden die Beziehungen zu ihren Frauen diesen immensen Spannungen standhalten? Wie kann man überhaupt weiterleben im Angesicht all der grauenvollen Erinnerungen und des unvorstellbaren Leids? Wie gehen die Frauen mit ihren immer wieder aufs Neue enttäuschten Hoffnungen um? Sehr lesenswert!

„Zeiten des Aufbruchs“, von Carmen Korn

Zurück in Hamburg – inzwischen schreiben wir das Jahr 1949. Die Geschichte der vier um 1900 geborenen Frauen geht weiter. Der Zweite Weltkrieg ist vorüber, Hamburg ist zerstört. Käthe wird noch vermisst, ebenso wie ihr Mann Rudi. Henny, Ida und Lina versuchen sich ein neues Leben aufzubauen. Das deutsche Wirtschaftswunder kommt langsam ins Rollen. Klaus, Sohn von Henny, bekommt eine eigene Rundfunksendung und da swingt und klingt es ganz wunderbar; mit etwas Wehmut erinnerte ich mich an all die tollen Songs jener Zeit. Und an klangvolle Namen wie Bully Buhlan, Lonny Kellner, Ella Fitzgerald …

Auch beim 2. Band der Trilogie war ich ganz schnell wieder in Hamburg dabei und habe gerne gelesen, wie unterschiedlich sich die Leben der Freundinnen weiter entwickeln. Den Rahmen bilden die Ereignisse jener Jahre: Mauerbau, Kubakrise, Studenten-unruhen. Diese Geschehnisse werden aber nur erwähnt, nicht vertieft.

Wer sich an jene Zeit gut erinnern kann, also ein eher älterer Jahrgang ist ;-), wird Freude an diesem Buch haben. Im Sommer 2018 erscheint der letzte Band der Trilogie, den werde ich sicher auch noch lesen. Und vorher fahre ich für ein paar Tage nach Hamburg, denn das Buch hat in mir mal wieder (die immer latent vorhandene) Sehnsucht nach der Hansestadt geweckt!

Hier geht’s zur Besprechung des 1. Teils.

 

„Töchter einer neuen Zeit“, von Carmen Korn

Ein dicker Schmöker. Die Geschichte von vier Frauen, die um die Jahrhundertwende geboren sind und zwei Weltkriege erleben. Obwohl das Buch 550 Seiten hat, bleibt es bei der Innenschau der Personen seltsam an der Oberfläche. Keine der handelnden Personen kommt einem wirklich nahe. Man schaut von außen auf die Figuren und ihr bewegtes Leben. Die Nebenfiguren stehen einem fast plastischer vor Augen als die vier Frauen. Die bodenständigen Eltern von Käthe – die patente Mutter mit ihren Kochkünsten und der Vater mit seinen lakonischen Sprüchen – sind echte Hamburger Originale und mir als solche ans Herz gewachsen. Ebenso die beiden sehr unterschiedlichen Ärzte, die die Wege der Frauen immer wieder kreuzen. Insgesamt sind es sehr viele handelnde Personen und die Personenübersicht in der Vorderklappe hätte noch viel ausführlicher sein können – zu verwirrend sind die vielen Namen.

In der hinteren Klappe ist ein Stadtplan, der Hamburg 1919 zeigt, bzw. die Viertel Uhlenhorst, Barmbeck, Hohenfelde und Eilbeck, in denen der Roman überwiegend spielt. Das ist eine gute Idee, macht es doch das Geschehen plastischer. Die politischen Ereignisse der dunklen Zeit rund um die beiden Weltkriege bilden den Hintergrund, vor dem sich alles abspielt.

Es fehlt insgesamt etwas an Tiefe – dennoch, nach und nach schließt man alle Figuren ins Herz und will wissen, wie es mit ihrem Leben weitergeht. Es gibt noch einen zweiten und einen dritten Band. Die Aufbaujahre nach dem Zweiten Weltkrieg bieten ja genug Stoff für interessante Geschichten. Ich werde also demnächst „Zeiten des Aufbruchs“ lesen.

Bücher über die Zeiten, in denen unsere Mütter sich durchs Leben schlagen mussten, finde ich generell interessant. Das scheint vielen anderen auch so zu gehen, denn vorne auf dem Buch klebt ein Sticker BestBestseller – das finde ich nicht nur affig, sondern auch inhaltlich nicht gerechtfertigt. „Töchter einer neuen Zeit“ ist nette Unterhaltungsliteratur, die sich leicht weg liest.

 

 

„Wir sind doch Schwestern“, von Anne Gesthuysen

Die Autorin Anne Gesthuysen ist nicht nur ARD-Morgenmagazin-Moderatorin, sondern auch Ehefrau von Frank Plasberg und somit „Promi.“ Sie hat ihren ersten Roman geschrieben; er ist fiktiv, beruht aber auf den Erinnerungen, Erzählungen und Anekdoten ihrer drei Großtanten.

Es geht um Schwesternliebe und um ein Leben auf dem Land, am Niederrhein im vorigen Jahrhundert. (Ich hatte Freude an ein paar plattdeutschen Kraftausdrücken, z.B. „du bis enne Prootsack“, sinngemäß etwa: „du bist gemein“. Aber man muss nicht vom Niederrhein stammen, um das Buch zu verstehen!)

Die Geschichten der drei Schwestern sind natürlich miteinander verwoben, die der ältesten und der jüngsten auf besondere Art und Weise. Die Handlung setzt mit den Vorbereitungen für Gertruds hundertsten Geburtstag ein. Katty, die jüngste mit ihren vierundachtzig, plant und organisiert das Fest in gewohnt professioneller Art und Weise, eine ihrer größten Stärken, von der einst auch die Liebe ihres Lebens profitierte. Unerreichbar war er für sie, der bedeutende CDU-Politiker und Landtagsabgeordnete. Aber eigentlich ist das nur die halbe Wahrheit!

Immer wieder lässt Gesthuysen ihre Protagonistinnen zurückschauen und sich erinnern. Jedes der drei Frauenleben ist auf seine Art bunt und bewegt, auf jeden Fall nicht stromlinienförmig. Die Lebenslust, die alle drei im hohen Alter immer noch ungebrochen ausstrahlen, hat etwas Ansteckendes. Die Geschichte plätschert über weite Teile dahin, wirklich Fahrt nimmt sie erst gegen Ende auf. Aber sie ist nett zu lesen. Wenn vom Elf-Ührken die Rede ist, (ein Schnäpschen, das man sich zwischendurch mal genehmigt, um besser durch den Tag zu kommen), oder von einem in Flagranti ertappten Paar („die Hosen an Knöcheln und Kniekehlen allerdings verhinderten einen koordinierten Abgang“), so muss man bei aller durchaus vorhandenen Tragik immer wieder schmunzeln.

Zwei Weltkriege, die moralingesäuerten fünfziger und sechziger Jahre, Liebe, Lust und Leiden auf dem platten Land, aber auch Gelassenheit und menschliche Größe – man lässt sich gerne entführen in diese drei Frauenleben im 20. Jahrhundert. Von denen eins im 19. Jahrhundert beginnt und erst im 21. endet!