„Menschenkind“, von Toni Morrison

Was für ein Buch! Genauso sehr wie der Inhalt beschäftigen mich viele Fragen: Hätte ich dieses Buch auch gelesen, wenn Toni Morrison nicht den Pulitzer-Preis dafür bekommen hätte, wenn es nicht von einer Nobelpreisträgerin geschrieben worden wäre? Warum habe ich mich so schwer damit getan – zumindest phasenweise? Will ich mich nicht mehr anstrengen? Bin ich zu ungeduldig? Liegt es am Mystischen?

Die Geschichte erzählt von der ehemaligen Sklavin Sethe, die sich, hochschwanger, aus der Gefangenschaft befreien kann, und mit ihren drei bzw. vier Kindern bei ihrer Schwiegermutter unterkommt. Als die Geschichte einsetzt, lebt sie nur noch mit einem Kind zusammen. Ihre beiden halbwüchsigen Söhne sind auf und davon, ihre kleine Tochter lebt nicht mehr. Ihren Tod kann Sethe nicht verwinden. Der Geist des kleinen Mädchens spukt in ihrem Haus.

Morrison entrollt langsam, in vielen Rückblenden, Sethes langen Leidensweg. Dabei beschreibt sie nicht nur die von den Sklaven tagtäglich erlittenen Grausamkeiten, sondern führt eindringlich vor Augen, wie sich der Verlust der Freiheit für diese Menschen anfühlt. Sie schreibt so, dass einem permanent Bilder vor Augen kommen (ich musste häufig an den Film „Die Farbe Lila“ denken), man hört die Geräusche und Gesänge, hat die Gerüche in der Nase. Morrison schreibt poetisch, zart und gleichsam schwingend auf der einen Seite, aber auch zupackend und mit unerbittlicher Härte und Genauigkeit auf der anderen. Gleichzeitig lässt sie vieles in der Schwebe und nicht alles Verwirrende löst sich auf. Im Netz gibt es den Tipp, das Buch zweimal zu lesen, um es besser zu verstehen – aber auch die Anmerkung, wer will so ein schwieriges Buch denn gleich zweimal hintereinander lesen …

Aber dennoch: Das Buch ist auf jeden Fall sehr sehr lesenswert, man sollte sich Zeit dafür nehmen! Und es ist ein Buch, das sich gut für einen Lesezirkel eignet, denn im Gespräch mit anderen durchdringt man die Geschichte bestimmt besser, und erfahrungsgemäß beschäftigen jeden Leser andere Aspekte.

Früher in Rente – die FAZ fragt nach dem Warum, hier kommt eine Antwort

Funk, Fernsehen und Presse berichten in diesen Tagen, dass der Anteil der Frührentner in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist – lag er 2005 bei 41,2 %, so betrug er 2011 schon 48,2 % (Quelle FAZ, 1.2.2013). Die FAZ fragt nach dem Warum. Im Wirtschaftsteil schreibt die Zeitung, dass es „keine wissenschaftlichen Untersuchungen zu den Motiven für einen vorzeitigen Ruhestand“ gibt, im Leitartikel zum selben Thema wird behauptet „die Frage (…) ist den Rentnern erstaunlicherweise noch nie gestellt worden.“ Wirklich?

Auch ich habe viel früher als ursprünglich beabsichtigt den Job verlassen, und so drängt es mich, das zu  kommentieren.

Als erstes fällt mir dazu ein, dass just in dieser Woche durch die Medien ging, dass immer mehr Deutsche Stress am Arbeitsplatz haben, jeder zweite klagt darüber! Das ist doch schon mal eine handfeste Erklärung: Immer weniger Menschen sind bereit, diesen ständigen Druck im Job auszuhalten, und immer mehr Menschen merken, dass es noch andere Dinge im Leben gibt als (fremdbestimmt) Arbeiten  – so erfüllend ein Berufsleben auch sein kann.

Ich bin seit drei Jahren im Ruhestand, und jeden Tag aufs neue freue ich mich, dass ich dem aufreibenden Job mit sechzig Jahren Ade gesagt habe. Ich wollte nicht völlig abgenudelt in diese letzte Zeitspanne eintreten, damit mir noch genügend Kraft und Energie bleibt, sie sinnvoll zu nutzen. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Möglichkeit dazu habe – wohl dem, der es sich leisten kann. Was mir seinerzeit bei der Entscheidung geholfen hat:

Auf einem Seminar wurden wir aufgefordert, die uns statistisch verbleibende Lebenszeit in Tagen auszurechnen (Ausgangswert ist die durchschnittliche Lebenserwartung minus aktuelles Lebensalter, die Differenz ist der persönliche Wert), so simpel und so erhellend! Seinerzeit waren es bei mir knapp 8000 Tage. Als ich mir überlegt habe, WIE schnell die Tage, Monate, Jahre verfliegen, habe ich mich erschrocken, und mir wurde erstmals richtig klar, dass meine Zeit endlich ist.

Im FAZ-Artikel gibt es einen erhellenden Satz: „(…) Vielmehr nähmen viele Menschen nach individueller Abwägung von Kosten und Nutzen die Abschläge bewusst in Kauf.“ Wohl wahr! Die Kosten: Geld ist nicht alles, der Nutzen: eindeutig – Druck gegen Freiheit und Selbstbestimmung. Zeit! Gibt es etwas Kostbareres? Ein ganzes Füllhorn von Möglichkeiten eröffnet sich …

WIE man seine Zeit nutzt, das ist aber ein Thema für sich – Rödeln oder Ruhen, das ist die Frage, dazu ein anderes Mal mehr.