Vor Rehen wird gewarnt, Vicki Baum

Was für ein Vergnügen, dieses Buch zu lesen! Und das, obwohl die Protagonistin ein ausgekochtes Biest ist. Aber die Fabulierfreude der Autorin ist einfach umwerfend. Man kennt Vicki Baum hauptsächlich von ihrem Erfolgsroman „Menschen im Hotel“, der mit Greta Garbo verfilmt wurde. Aber viele halten dieses (wiederentdeckte) Buch von Baum für ihr Bestes. Sie schrieb es 1951, vor kurzem wurde es wieder aufgelegt. Es spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ich bin schlichtweg begeistert. Vor allem der herrliche Humor, die trockene Art und Weise, mit der Baum „Sachlagen“ beschreibt, ist wunderbar. „Lieber drei Tage zu viel im Bett als fünfzig Jahre zu früh im Sarg“, lässt sie den Arzt der Familie sagen.

Ihre Charakterzeichnungen sind brillant, allen voran die der Protagonistin Ann, dem angeblich so zarten Reh, das sowohl die Gesellschaft in Wien als auch die in San Francisco aufmischt. So entsteht ein detailreiches Bild des beginnenden 20. Jahrhunderts in Europa und Übersee. Ann nimmt sich, was sie will und bekommt es auch, notfalls mit Hilfe kleiner Ohnmachten zur rechten Zeit. Sie hat nur ein Ziel, sie möchte Mrs. Ambros werden, Gattin des gefeierten Violinisten, doch der entscheidet sich für ihre unscheinbare Schwester Maud … Aber das zarte Reh ist zäh – das schreckliche Erdbeben in San Francisco von 1906 und die dadurch verursachten Feuer versteht Ann letztlich zu ihren Gunsten zu nutzen. 

In der Mitte des Buches wechselt die Perspektive, dann rückt die Stieftochter der Protagonistin in den Mittelpunkt des Geschehens und die Geschichte verliert etwas an Fahrt, hat auch ein paar Längen (die Autorin liebt Adjektive), liest sich aber trotzdem jederzeit gut. Und dann kehrt der Roman wieder zu Ann zurück.

Nein, man möchte dieser Frau, diesem „zarten Reh“ nicht in die Quere kommen. Deshalb heißt es ja auch „Vor Rehen wird gewarnt.“ Aber man verfolgt gespannt bis zum Schluss, was mit Ann passiert. 

„Warten auf Bojangles“, von Olivier Bourdeaut

Was für ein Kontrastprogramm zum zuletzt hier vorgestellten Buch „Schlafen werden wir später“! 158 Seiten gegenüber 683 Seiten. Kurz, knapp, irreal das eine – langatmig, ausschmückend, realistisch das andere. Zermürbender Alltag gegen Lebensfreude pur. Voller Phantasie und Poesie beide. Bei einem ersten Lektüre-Versuch von „Bojangles“ vor ein paar Monaten hatte ich aufgegeben, ich hatte die Geschichte seinerzeit als zu skurril und abgedreht empfunden. Und jetzt?

Die Geschichte ist nicht nur besonders phantasievoll, sie ist verrückt, voller Lebenslust, voll überschäumender Begeisterung, unbändiger Trauer und  feinem Humor. Erzählt wird, mal aus Sicht des Vaters, mal aus Sicht des Sohnes, über die Ehefrau und Mutter (der der Vater ständig neue Namen gibt). Sie ist krank, das wird schnell klar. Hysterie, Bipolarität, Schizophrenie – so benennen es die Ärzte. Doch die kleine Familie will es nicht hören, nicht wahrhaben, nicht durchdringen lassen in den bisher gelebten Alltag voller Phantasie, Originalität und überschäumender Lebensfreude. Sie greift zu rabiaten Mitteln …

Auch in diesem Buch wird geweint: „Sie zog sich dann zurück und weinte und weinte und konnte gar nicht mehr aufhören, wie wenn man am Berg zu viel Schwung hat – “. „Sie war untröstlich, zwischen ihren Problemen und ihr war kein Fingerbreit für uns, der Platz war uneinnehmbar.“ Das ist kurz und knapp formuliert und geht doch so zu Herzen. Achtung: Das Ende ist unglaublich traurig und doch von einer solch stillen Heiterkeit durchzogen, dass ich erst lächeln und dann sogar lachen musste. Das Lachen blieb mir dann aber doch im Hals stecken. Es ist ein kleines Meisterwerk, dieses Büchlein. Und  typisch französisch.

Ich danke meinem Freund Wolter für diesen Tipp und gebe hiermit seine Anregung weiter, parallel zum Lesen „Mister Bojangles“ zu hören, meiner Meinung nach am schönsten von Sammy Davis Jr. gesungen. Und von mir kommt der Tipp, zunächst weggelegten Büchern zu einem späteren Zeitpunkt noch mal eine Chance zu geben! Und noch ein Tipp: Der Blog Ohrenschmaus hat sich dem Buch „Warten auf Bojangles“ – und natürlich dem Song „Mister Bojangles“ – von der musikalischen Seite genähert – auch lesens- und natürlich hörenswert, hier.

„Drehtür“, von Katja Lange-Müller

Eine Frau Mitte Sechzig blickt auf ihr Leben zurück. Man hat sie aus ihrem Berufsleben als Krankenschwester im Dienst internationaler images-1Hilfsorganisationen gedrängt, geradezu gemobbt; nun findet sie sich in der Drehtür des Münchner Flughafens wieder und fragt sich, wie es weitergehen soll mit ihrem Leben. Im lebhaften Treiben der Halle fallen ihr immer wieder einzelne Personen in den Blick, die sie an Menschen aus den vergangenen Jahren erinnern. Und so erzählt sie die Geschichten, die
sie mit ihnen erlebt hat, Skurilles wie Trauriges, Verrücktes wie Witziges.

Katja Lange-Müller ist eine hoch dekorierte, mit zahlreichen Stipendien geförderte Schriftstellerin. „Drehtür“ wurde sehr gelobt. Das macht ja immer neugierig. Und ihr Umgang mit Sprache ist in der Tat bemerkenswert, sie seziert einzelne Worte, wirft einen neuen Blick darauf, und so manches Mal dachte ich, sie hat recht, es ist wirklich ein seltsames Wort für das, was wir darunter verstehen. Ihre Erzählweise ist bissig, oft mit herrlich trockenem Humor. Die meisten Episoden sind interessant und lesenswert, aber das ganze wirkt eher wie eine Ansammlung von Kurzgeschichten, mir fehlt etwas der Zusammenhang. Doch mit Hilfe einer Rezension erkenne ich die beabsichtigte Klammer: „Mit jeder Episode variiert sie das höchst aktuelle und existenzielle Thema: das Helfen und seine Risiken.“

Das Ende befremdet mich etwas. Es schließt nichts, öffnet aber auch nichts. Allerdings hat die Autorin erreicht, dass ich darüber grüble und im x-ten Ansatz auch einen Sinn darin finde. Fazit: Sprachlich teilweise bemerkenswert, aber die Geschichte als ganzes berührt mich nicht wirklich.