„Und damit fing es an“, von Rose Tremain

Ein Buch voller Weisheit und Wärme. Einfach wundervoll. Rundum. Es erzählt die Lebens-Geschichten zweier Männer, die seit Kindertagen eine enge Freundschaft verbindet. Es ist eine ungleiche Beziehung, Gustav wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, alleine mit seiner verbitterten Mutter. Anton stammt aus einer kultivierten jüdischen Familie, die ihn liebevoll fördert und seinen Wunsch unterstützt, ein berühmter Pianist zu werden. Doch Klavierspielen ist nicht gleich Klavierspielen, und nicht jeder ist dafür geboren, auf der großen Bühne zu stehen – und nicht jeder erkennt, was das Leben für ihn bereithält …

Gustav lernt von seiner Mutter Emilie nur eins: Du musst wie die Schweiz sein. Du musst dich beherrschen, du musst dich zusammenreißen, mutig und stark sein, und du musst dich heraus halten, neutral sein. Liebe erfährt Gustav nicht von Emilie. Aufgrund ihrer Überzeugung, dass der frühe Tod ihres Mannes mit seiner Hilfe für jüdische Flüchtlinge zusammenhängt, will Emilie ihrem Sohn sogar den Umgang mit Anton und seinen jüdischen Eltern verbieten. Aber Gustav steht treu und unerschütterlich zu seinem Freund, und als dessen Familie ihn mit zum Schlittschuhlaufen nimmt, eröffnet sich für ihn eine ganz neue Welt, die er unbedingt festhalten will.

In ihrem wunderbar kurzen und knappen Stil, der doch alles Wesentliche sagt, schildert Tremain, dass es manchmal ein ganzes Leben braucht, damit Menschen zu dem werden, das in ihnen angelegt ist. Es geht um Umwege, Irrwege und Abwege. Voller Wärme zeichnet sie wunderbare, lebensechte Charaktere, unperfekte Menschen, die sich durch ein unperfektes Leben mühen und doch immer wieder Momente großen und kleinen Glücks erfahren.

Lesen! Und sich den Namen der Autorin merken!

„Michel Petrucciani – Leben gegen die Zeit“, Film von Michael Radford

Michel Petrucciani: Noch nicht mal einen Meter groß, schwer krank, aber sprühend vor Tatkraft und Kreativität, das reinste Energiebündel. Der Doku-Film erzählt die Geschichte des französischen Jazz-Pianisten Petrucciani, eines genialen Musikers. Mit Rückblenden in die Kindheit und Jugend werden wir schnell ins Bild gesetzt über die schwere Glasknochen-Krankheit des Protagonisten, seine körperliche Behinderung (er ist nur knapp einen Meter groß und kann lange selber nicht gehen, wird immerzu getragen) und über seine geringe Lebenserwartung. Über all das setzt Petrucciani sich mit unglaublicher Energie hinweg, widmet sein Leben der Musik. Mit siebzehn Jahren bricht er auf, um Amerika zu erobern, schafft es tatsächlich, bei Blue Note unter Vertrag genommen zu werden und im legendären Jazzclub Village Vanguard mit einschlägigen Musikgrößen aufzutreten. Wenn er am Klavier sitzt, wirkt er wie entfesselt, spielt mit unglaublicher Leidenschaft und Rasanz, kaum zu glauben, dass er immer Gefahr lief, sich etwas zu brechen, was auch mehrmals passierte. Es kümmert ihn nicht, er lebt gegen die Uhr  (versinnbildlicht durch die immer wieder eingeblendeten, vorrückenden Uhrzeiger).

Im Film kommen verschiedene Weggefährten zu Wort, natürlich auch seine drei Frauen. Petrucciani hat nichts anbrennen lassen, nichts ausgelassen, gegen den Rat der Ärzte sogar ein Kind in die Welt gesetzt. Mitleid war das letzte, was er wollte. Aber wir sehen auch einen von sich sehr überzeugten Menschen, der es seiner Umwelt nicht immer ganz leicht machte – man ist versucht zu sagen, typisch Genie. Als er mit 36 Jahren stirbt, wirkt er viel älter, er hat alles in sein kurzes Leben gepackt, was hineinzupacken war, keine Sekunde seines Lebens vergeudet.

Die Musikszenen sind mitreißend, der Film hat in mir die unbändige Lust geweckt, wieder mehr Jazz zu hören. Doch auch wer diese Musikrichtung nicht unbedingt favorisiert, wird sich der elektrisierenden Aura dieses ungewöhnlichen Menschen nicht entziehen können.