Alles ist möglich, Elizabeth Strout

Neun geschickt ineinander verwobene (Kurz-)Geschichten erzählen von Menschen in einer amerikanischen Kleinstadt. Strout erinnert mich in der Art und Weise, wie sie ihren Protagonisten nahekommt, ihre Schwächen, Vorlieben, Sehnsüchte, ihre Hoffnungen und ihr Scheitern beschreibt, stark an die von mir sehr geschätzte Anne Tyler. Beide sind Pulitzer-Preisträgerinnen.

Auch Strout schaut genau hin, beobachtet die Menschen in ihrem Alltag, erzählt unsentimental von ihrem oft unglücklichen Leben und bringt uns die Personen durch lebendige, teilweise skurrile, teilweise komische Dialoge näher. Manches lässt die Autorin in der Schwebe, es bleibt dem Leser vorbehalten, sich einen Reim darauf zu machen. Es ist nicht so sehr der Fortgang der Geschichten, der fesselt, es sind die leisen Zwischentöne, die es aufmerksam zu lesen gilt. Strout schildert die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle, es ist das pralle Leben mit allen seinen Facetten, das hier meisterhaft beschrieben wird.

Schreibtisch mit Aussicht, Ilka Piepgras (Hrsg.)

Vierundzwanzig bekannte und bedeutende Schriftstellerinnen äußern sich zum Thema Schreiben. Faszinierend, wie unterschiedlich die Autorinnen die ihnen gestellte Aufgabe angehen – das reicht von intellektuellen und philosophischen Reflexionen bis zu pragmatischen Beschreibungen des Schreibhandwerks. 

Die Autorinnen erzählen von Gewohnheiten, Schwierigkeiten, Abläufen, von Routinen und Ritualen, von Kämpfen und Konflikten. Vom so wichtigen Gefühl grenzenloser Zeitvorräte. 

Anne Tylers Beitrag heißt Ich schreibe nur und drückt damit aus, wie die Tätigkeit des Schreibens häufig von anderen gesehen wird. In ihrem typischen, leicht selbstironischen Stil erzählt sie, wie bei ihrem im Kopf fertigen Roman beim Schreiben der Alltag immer wieder dazwischen kommt. Wie schwer es ist, ihr Leben als Mutter mit dem einer Autorin unter einen Hut zu bringen. Aber wie sehr die Kinder auch ihr Schreiben bereichert haben. („da war mehr in mir, woraus ich schöpfen konnte.“) Ihr Beitrag ist so wie ihre Bücher, wohl gesetzte Worte, wunderbar zu lesen.

Auch Elena Ferrante beschäftigt sich im Rahmen einer schriftlichen Befragung (den Begriff Interview lehnt sie explizit ab) mit dem Thema Mutterschaft. Ihr wird die Frage gestellt: „Glauben Sie eine Frau, die keine Mutter ist, ist in der Lage, ihr tiefstes Menschsein zu erleben? Anders gesagt: Glauben Sie, das Leben gewährt jedem, der schreibt, von Natur aus genügend Erfahrungen, aus denen er schöpfen kann?“ Besonders der zweite Teil der Frage interessierte mich brennend, Ferrante gibt aber leider nur eine ausweichende Antwort, enttäuschend.

Mariana Lekys Essay ist kurz, knapp, köstlich, ein kleines Kunstwerk. Ich liebe ihren Humor und ihre verdichtete Art zu schreiben. 

An Joan Didions Beitrag mag ich ihre Definition von Schriftstellerin: „Ein Mensch, der seine konzentriertesten und leidenschaftlichsten Stunden damit verbringt, Wörter auf Papier zu ordnen.“ Und ebenso ihre Definition von Grammatik, die nämlich: „unendliche Macht besitzt, denn die Struktur eines Satzes zu verschieben heißt, die Bedeutung zu verschieben, kategorisch und radikal.“ (Das ist genau das, was mich beim Schreiben auch immer wieder aufs Neue fasziniert.)

In (fast) jedem der Beiträge findet sich etwas, das mich anspricht und zum Nachdenken anregt. Ich kannte nicht alle Schriftstellerinnen, habe aber durch diese Lektüre Lese-Anregungen für Titel von ihnen erhalten. Insgesamt ist es ein buntes Kaleidoskop und wer sich für das Schreiben interessiert und gerne einen Einblick in das Leben und Arbeiten berühmter Schriftstellerinnen erhalten möchte, wird hier auf jeden Fall fündig.

„Die Reisen des Mr. Leary“, von Anne Tyler

Die wunderbare Anne Tyler hat wieder ein Buch geschrieben: „Der leuchtend blaue Faden.“ Ich habe die Besprechung in der FAZ gelesen und es auf meine „Lese-Liste“ gesetzt. Aber zunächst habe ich mir endlich einmal „Die Reisen des Mr. Leary“ von Tyler vorgenommen, neben „Atemübungen“ (dafür hat sie den Pulitzerpreis bekommen) ihr berühmtestes Buch, das auch erfolgreich verfilmt wurde. Und ich habe, wie immer, jede Zeile genossen.

Es ist eine seltsame Geschichte mit Anne Tyler und mir. Schon vor vielen Jahren hatte mir ein Kollege „Die Reisen des Mr. Leary“ empfohlen, ich bin aber nicht drauf angesprungen. Die „Atemübungen“ hatte ich damals angelesen – war aber nicht reingekommen, ich war wohl noch nicht reif dafür … Jahre später, auf der Suche nach einem Autor, der mehr als ein schönes Buch geschrieben hat, hat mir eine Kollegin Anne Tyler empfohlen, und dieses Mal ist der Funke übergesprungen – inzwischen kenne ich die meisten ihrer Titel. Und ich liebe sie alle.
„Die Reisen des Mr. Leary“ ist in all seinen Ausprägungen ein gutes Beispiel für den unverwechselbaren Tyler-Stil. Witzig, traurig, herzerwärmend, einfach grandios. Tyler ist unglaublich genau im Beschreiben von Szenen und Personen, sie ist total nah dran an ihren Figuren und man spürt, wie sehr sie sie mag. Überaus kunstvoll entblättert sie beiläufig auf den ersten Seiten das Schicksal von Learys Sohn. Ihre Protagonisten sind meist etwas schräg; im vorliegenden Buch mag man erst gar nicht glauben, dass Muriel („eine magere junge Frau in einer rüschenbesetzten Folklorebluse. Sie hatte schauderhaft krauses, schwarzes Haar …“) die Frau sein wird, die in Mr. Learys Leben (und in dem seines Hundes Edward) eine große Rolle spielen wird. Alleine die Szenen mit Edward, dem ganz und gar Lernunwilligen Welsh Corgie mit „kurzen, drallen Beinen, wie die Keulen einer bratfertig dressierten Long-Island-Jungente“ sind zum totlachen. „Oben auf der Kellertreppe klagte Edward sein Leid. Er hatte zwar Hunger, aber nicht den Mut, allein hinunterzulaufen. Als er Macon erblickte, legte er sich flach, ließ die Schnauze über die oberste Stufe hervorlugen und setzte eine hoffnungsvolle Miene auf.“
Um was geht es? Nichts Weltbewegendes – Hund und Herrchen sind nach der Trennung von Sarah, Learys Ehefrau, etwas neben der Spur. Muriel, die auf den ersten Blick eher skurrile Hundetrainerin, soll es richten, bei Edward! Sie nimmt sich nicht nur des Corgies an …
Liebe Leute, dies ist zwar die Besprechung eines Buches, aber hauptsächlich soll es ein Lobgesang auf eine Autorin sein. Lesen!