„Zerbrechlich“, von Jodi Picoult

Jodi Picoult ist auch so eine Vielschreiberin. Ich habe fast alle Romane von ihr gelesen. „Zerbrechlich“ hat mich sehr an ihr Buch „Im Namen meiner Schwester“ erinnert, das ich seinerzeit faszinierend fand, auch aufgrund der Perspektivwechsel: Alle Personen im Umfeld der Hauptperson schildern abwechselnd ihre Sicht der Dinge. Auch in „Zerbrechlich“ arbeitet Picoult mit diesem stilistischen Element.
In der vorliegenden Geschichte geht es um das Mädchen Willow, das mit der Glasknochenkrankheit (Osteogenesis imperfecta, kurz OI) auf die Welt gekommen ist. Ständig läuft Willow Gefahr, sich Knochen zu brechen, an ein normales Leben ist nicht zu denken. Naturgemäß dreht sich im überaus schwierigen Alltag der Familie alles um dieses kranke Kind; Amelia, die gesunde ältere Schwester wird von den Eltern nahezu übersehen. Als die Idee aufkommt, dass man die Gynäkologin auf ungewollte Geburt verklagen könnte (wir bewegen uns im amerikanischen Rechtssystem!), erhofft sich die Mutter Charlotte von der Klage eine hohe finanzielle Entschädigung, mit der sie die immensen Kosten für die Krankheit ihrer Tochter besser decken könnte. Die Sache hat aber einen entscheidenden Haken, die Gynäkologin ist Charlottes beste Freundin, auch die Töchter der beiden sind eng befreundet. Ein weiteres Problem: Charlotte müsste vor Gericht lügen, sie müsste so tun, als hätte sie ihre Tochter niemals bekommen, wenn man sie in der Schwangerschaft rechtzeitig auf die Krankheit aufmerksam gemacht hätte. Harter Tobak, aber Charlotte reicht die Klage ein …
Picoult hat es echt drauf, Spannung zu erzeugen, und sie greift immer hochinteressante Themen auf. Dennoch bin ich mit diesem Buch nicht ganz glücklich. Abgesehen davon, dass es sehr amerikanisch ist, finde ich es auch etwas glatt, etwas zu konstruiert und auf Wirkung hin konzipiert. Auch ihr bevorzugter Satzbau (eingeschobenes Verb bei wörtlicher Rede) hat mich dieses Mal etwas genervt: „Weißt du Charlotte“, sagte sie sanft, „mir auch.“

„Zerbrechlich“ ist bis zum Ende hin spannend, man fragt sich nicht nur, wie das Urteil ausfallen wird, sondern auch, ob das Auseinanderbrechen der Familie noch verhindert werden kann. Wer also gerne psychologisch spannende Unterhaltung liest, ist hier richtig. Ich habe vielleicht zu viel Picoult gelesen, oder es erinnerte mich zu sehr an „Beim Leben meiner Schwester“. Bei mir bleibt ein leicht schales Gefühl zurück.

„Michel Petrucciani – Leben gegen die Zeit“, Film von Michael Radford

Michel Petrucciani: Noch nicht mal einen Meter groß, schwer krank, aber sprühend vor Tatkraft und Kreativität, das reinste Energiebündel. Der Doku-Film erzählt die Geschichte des französischen Jazz-Pianisten Petrucciani, eines genialen Musikers. Mit Rückblenden in die Kindheit und Jugend werden wir schnell ins Bild gesetzt über die schwere Glasknochen-Krankheit des Protagonisten, seine körperliche Behinderung (er ist nur knapp einen Meter groß und kann lange selber nicht gehen, wird immerzu getragen) und über seine geringe Lebenserwartung. Über all das setzt Petrucciani sich mit unglaublicher Energie hinweg, widmet sein Leben der Musik. Mit siebzehn Jahren bricht er auf, um Amerika zu erobern, schafft es tatsächlich, bei Blue Note unter Vertrag genommen zu werden und im legendären Jazzclub Village Vanguard mit einschlägigen Musikgrößen aufzutreten. Wenn er am Klavier sitzt, wirkt er wie entfesselt, spielt mit unglaublicher Leidenschaft und Rasanz, kaum zu glauben, dass er immer Gefahr lief, sich etwas zu brechen, was auch mehrmals passierte. Es kümmert ihn nicht, er lebt gegen die Uhr  (versinnbildlicht durch die immer wieder eingeblendeten, vorrückenden Uhrzeiger).

Im Film kommen verschiedene Weggefährten zu Wort, natürlich auch seine drei Frauen. Petrucciani hat nichts anbrennen lassen, nichts ausgelassen, gegen den Rat der Ärzte sogar ein Kind in die Welt gesetzt. Mitleid war das letzte, was er wollte. Aber wir sehen auch einen von sich sehr überzeugten Menschen, der es seiner Umwelt nicht immer ganz leicht machte – man ist versucht zu sagen, typisch Genie. Als er mit 36 Jahren stirbt, wirkt er viel älter, er hat alles in sein kurzes Leben gepackt, was hineinzupacken war, keine Sekunde seines Lebens vergeudet.

Die Musikszenen sind mitreißend, der Film hat in mir die unbändige Lust geweckt, wieder mehr Jazz zu hören. Doch auch wer diese Musikrichtung nicht unbedingt favorisiert, wird sich der elektrisierenden Aura dieses ungewöhnlichen Menschen nicht entziehen können.