Anne B. Ragde, Sonntags in Trondheim

Nun hat sie doch eine Fortsetzung der Lügenhaus-Serie geschrieben! Zur Erinnerung: Das war die wunderbare, sehr erfolgreiche Trilogie, die in Norwegen auf einem Hof spielt und sich um eine ziemlich kaputte, aber überaus liebenswerte Familie dreht, die Neshov-Sippe. Eine Fortsetzung, juchhu – oder doch nicht? Die Neshovs, das sind Erlend und Margido und ihre Nichte Torunn, die Anerbin, – und natürlich die schon verstorbenen, aber eigentlich immer präsenten anderen Mitglieder der Familie. 

Ich habe ein bisschen gebraucht, um mich wieder einzulesen. Erlend und sein Mann Krumme haben inzwischen drei Kinder, die sie gemeinsam mit den Müttern Jytte und Lizzi aufziehen. Die Beschreibung des Alltags mit den Kleinen fand ich anfangs manchmal etwas aufgesetzt lustig, und ich zweifelte, ob es so schlau war, die Trilogie fortzusetzen. Aber irgendwann war ich wieder richtig drin in dieser abgedrehten Familie und konnte den ganz besonderen Schreibstil der Anne Ragde genießen. Richtig gut gefiel es mir dann, als es um Margido ging, den Bestattungsunternehmer, und die Beschreibung seines (beruflichen) Alltags. Und als seine Nichte Torunn wieder ins Spiel kam, die Anerbin des Hofes, die am Ende der drei Bände überstürzt abgehauen war. Diese beiden Charaktere sind wunderbar und mit so viel Einfühlungsvermögen gezeichnet, dass ich bei allen ihren Schritten dabei war und mitgefiebert habe. Mir wurde immer wärmer ums Herz und ich war traurig, als ich zu Ende gelesen hatte.

Mein Fazit: Ich finde des super, dass Ragde die Lügenhaus-Serie, anders als von ihr angekündigt, doch noch fortgesetzt hat. Die Trilogie endete seinerzeit doch sehr abrupt. In diesem vierten Band  erfährt man, wie es bei allen Beteiligten weiterging – es ist stimmig und schön zu lesen. Ich kann allerdings nicht beurteilen, ob man diesen Lesespaß auch hat, wenn man die Bände vorher nicht kennt. Also am besten alle vier lesen! https://ilsebillslesezeichen.de/?s=Anne+B.+Ragde

Zufällig habe ich gerade entdeckt, dass es seit kurzem noch einen fünften Band gibt! Der kommt auf die Lese-Liste …

„Das Lügenhaus“, „Einsiedlerkrebse“, „Hitzewelle“– Trilogie von Anne B. Ragde

Ach, ich beneide jeden, der diese drei Bücher noch nicht gelesen hat. Im Zentrum der Geschichte steht eine Familie, die in Trondheim einen Bauernhof besitzt und ein düsteres Geheimnis mit sich herumträgt, das beim Tod der Mutter zutage tritt.

Die handelnden Charaktere, drei ungleiche Brüder und die uneheliche Tochter des einen, sind ungewöhnlich bis skurril, allesamt wachsen sie einem in Windeseile ans Herz. Da gibt es den schwulen Schöngeist Erlend mit seinem Lebenspartner, dem kugelrunden Krumme, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, Margido, den alleinstehenden, leidenschaftlichen Leichenbestatter, und den mundfaulen Schweinezüchter Torben mit seiner lange verheimlichten Tochter Torunn. Zu gerne würde er dieser einmal den Hof übergeben, ein Anspruch, der Torunn total überfordert, zumal sie ihren Vater ja erst vor kurzem kennengelernt hat und in Oslo lebt. Dieser Druck auf Torunn ist der traurigste Teil der Geschichte. Szenen des luxuriösen Schwulen-Haushalts in Kopenhagen wiederum sind zum Totlachen, ohne dass damit die beiden Männer bloßgestellt würden.

Mit liebevollem Blick auf menschliche Unzugänglichkeiten, alltägliche Schwierigkeiten und existentielle Lebensfragen zeichnet die Autorin das Porträt dieser etwas abgedrehten Familie. Selbst die Schweine schließt man ins Herz, sieht sie vor sich mit ihren „blauen Augen unter den kreideweißen Wimpern“ und ihren unterschiedlichen Naturellen. Das alles ist oft witzig und herzerwärmend, manchmal auch schwermütig und dunkel, aber immer zutiefst menschlich. Die Sprache zeichnet sich durch ungewöhnliche und originelle Beschreibungen und Bilder aus. Die Geschichte ist mitten aus dem prallen Leben und man wünscht sich, sie möge nie aufhören.