Das Liebesgedächtnis, Sibylle Knauss

Ein wunderschönes Buch. Obwohl es viel ums Altsein, um Demenz und Krankheit geht. Aber in erster Linie ist es eine Liebesgeschichte zwischen zwei alten Menschen. Zwischen der Ich-Erzählerin, die die beginnende Demenz spürt, und einem Mann, der sich als nicht ergänzungsbedürftig bezeichnet und gesundheitlich angezählt ist. Die Erzählerin ist Schriftstellerin; als sie merkt, dass ihr Gedächtnis sie zunehmend im Stich lässt, schreibt sie diese Liebesgeschichte auf, nutzt das Speichermedium ihres Laptops, um ihre Erinnerungen festzuhalten. Ihre Enkelin wird dieses Liebesgedächtnis eines Tages lesen, und es wird sie selbst zur Liebe führen. 

Der Roman beginnt rasant: Im Sommer zweitausendeins verliebte ich mich noch einmal und begann mein Gedächtnis zu verlieren. Ein toller erster Satz. Dann dauert es aber ein bisschen, bis die Geschichte Fahrt aufnimmt. Aber dann! Die Ich-Erzählerin erzählt kurzweilig, witzig und mit viel Herzenswärme, wie sie sich in diesen alten, äußerlich nicht besonders attraktiven, Mann verliebt hat. Voller Selbstironie beschreibt sie die Reaktionen ihrer Umwelt. Als ihr Sohn fragt, um was es in ihrem neuen Roman geht, entspinnt sich dieser Dialog:

„Es geht um die Liebe.“

„Aha“, sagte er. „Und um was noch?“

„Sonst nichts.“ 

„Okay …“

Man hörte die Pünktchen mit. Sie (unsere Kinder) sagen das heute, wenn sie ausdrücken wollen, dass man etwas ziemlich Blödes geäußert hat. Zu blöde, um darauf etwas zu entgegnen.

Die Demenz der Erzählerin schreitet voran, und die Krankheitsprobleme ihres Partners verschärfen sich zunehmend. Und dennoch bleibt immer dieser Tenor von Freude, Zuversicht und Trost. Mit einem Kunstgriff lässt uns die (zunehmend verwirrte) Autorin wissen, wie es weitergeht mit dem alten Liebespaar. Ein berührendes Leseerlebnis. 

Der heutige Tag, Helga Schubert

Vorab: Diese Frau ist wirklich bewundernswert, und als Autorin ist sie eine Entdeckung.

Dieses Buch mag oder kann man sicherlich nicht zu jeder Zeit lesen. Und vielleicht auch nicht in jedem Lebensalter? Man muss bereit sein, sich mit dem Tod, vielmehr mit dem Sterben, auseinanderzusetzen. Mit Krankheit und Siechtum. Es geht um Pflege mit all ihren brutalen Begleiterscheinungen. Aber auch um das Glück jahrzehntelanger Verbundenheit und der Freude an den kleinen Dingen. Die Autorin, jenseits der 80, pflegt ihren 96-jährigen Mann, der krank und dement ist. Dabei muss sie akzeptieren, dass ihre Welt immer enger wird, denn sie kann ihren Mann nicht alleine lassen und oft findet sie niemanden, der sie ablösen könnte. Die Kinder ihres Mannes, ihre Stiefkinder, lehnen es ab, sie bei der Pflege des Vaters auch nur mal kurzzeitig zu entlasten! 

Aber als eine Ärztin ihr sagt, sie müsse dem Körper ihres Mannes die Möglichkeit geben zu sterben, empfindet sie das als Anmaßung gegenüber der Schöpfung. „Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen.“ Es ist bewundernswert, wie die Autorin ganz selbstverständlich für ihren Mann da ist, Tag und Nacht. Natürlich trauert sie um ihn und seine Einschränkungen, sie trauert auch um all das, was gemeinsam nicht mehr möglich ist. Und sie verschweigt nicht, dass sie um sich selbst trauert: „Aber diese Traurigkeit ist einsam und kalt. Sie ist voll Vorwurf und Enttäuschung und Bitterkeit.“ 

Schubert spricht offen über die schrecklichen Seiten der Pflege und des Dementseins, berichtet über herausgerissene Blasenkatheter, Stürze mit dem Rollstuhl, ihre oft viel zu kurzen, ständig unterbrochenen Nächte. Aber immer scheint ihre Liebe zu ihrem Mann durch. Sie nennt ihn im Buch Derden – das steht für Der, den ich liebe. (Was für eine kreative Idee!) Kurz vorher hatte ich gerade Schuberts Geschichten „Vom Aufstehen“ gelesen, mit dem sie, nachdem sie sich jahrelang aus der literarischen Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, 2020, mit 80 Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat. 

Stay away von Gretchen, Susanne Abel

Ein erschütterndes Thema, super recherchiert und spannend aufbereitet. Gut zu lesen und vor allem bereichernd, weil es um ein Sujet geht, das bisher sehr vernachlässigt wurde:  Die Geschichte dreht sich um die sogenannten Brown Babys, die während der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden und überall ungewollt waren. Aber es geht auch um Rassismus, um die Weitergabe von Traumata an die nächste Generation, um Demenz – die Autorin widmet sich vielen Themen. Und natürlich ist es auch eine große Liebesgeschichte.

Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen. Im Jahr 2015 kümmert sich Tom um seine demente Mutter Greta in Köln. 1945 muss Greta mit ihrer Familie aus Ostpreußen flüchten, erlebt Schreckliches und schlägt sich unter schwierigsten Bedingungen in den Jahren nach dem Krieg durch. Die historische Ebene hat mir deutlich besser gefallen, der Sprachstil im Jetzt, rund um den erfolgsverwöhnten Workaholic Tom, ist mir zu flapsig, zu betont cool. 

So ist mein Urteil nicht durchgängig positiv. Das Ende ist sogar ausgesprochen ärgerlich, und schmälert das beeindruckende Bild, das die sorgfältigen Recherchen zuvor geprägt haben. Der Protagonist Tom, ein bekannter Kölner Nachrichtenmoderator, ist zunächst herzlich unsympathisch, Typ gefühlloser, oberflächlicher Macho. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber er wandelt sich, und seine Wandlung ist nicht ganz glaubwürdig gelungen. 

Aber, eigentlich sind das Nebensächlichkeiten, denn der Autorin gebührt Dank und Anerkennung, dass sie das Leben der Brown Babys mit ihren größtenteils erschütternden Schicksalen zum Thema gemacht hat. Das umfangreiche Literatur- und Filmverzeichnis am Ende zeugt von ihrer akribischen Recherche. Das Ganze in eine unterhaltsame Form zu bringen, ist ihr bestens gelungen. Von meinen kritischen Worten sollte sich also niemand abhalten lassen, das Buch zu lesen – alles in allem ist es sehr lohnend!

PS/ Eine mehrteilige Historienserie in der ARD, die heute Abend beginnt, scheint ähnliche Themen aufzugreifen: Ein Hauch von Amerika.

„Vergiss mein nicht“, Film von David Sieveking

Ein Sohn (Regisseur David Sieveking) macht einen Film über seine an Alzheimer erkrankte Mutter und steht dabei sowohl vor als auch hinter der Kamera. Ein mutiges Unterfangen, das den Zuschauer auch ganz schön fordert.

Ich habe ein bisschen gebraucht, bis ich mich an die Stimme des Regisseurs Sieveking gewöhnt hatte und an das etwas Laienhafte der ersten Szenen. Dann hat es mich aber gepackt. Der Sohn fährt zu seinen Eltern nach Bad Homburg und übernimmt dort eine Zeitlang die Pflege seiner demenzkranken Mutter, um seinen Vater zu entlasten, der sie seit zwei Jahren betreut. Wir erleben, wie mühsam und anstrengend die Tage für den Sohn sind, wir sind dabei, wenn er mit seiner Mutter zusammensitzt und sie über alte Fotos reden, und wir beobachten gebannt, wie er versucht, sie zu etwas mehr Aktivität zu bewegen. Wir sehen auf den Fotos eine wunderschöne, politisch aktive Frau in jungen Jahren, die sich mit ihrem Mann an einer offenen Ehe versucht, was nicht ohne gegenseitige Blessuren abgeht. Aber die Ehe hat gehalten, beileibe keine Selbstverständlichkeit in der 68er Generation. Und nun widmet dieser Mann (Malte, der Vater des Filmemachers) seiner 73-jährigen Ehefrau, die langsam ihr Gedächtnis verliert, all seine Zeit und Kraft. Das ist liebevoll, warmherzig, berührend zu sehen. Es gibt auch durchaus lustige Momente. (Der Sohn ruft der aus dem Bild marschierenden Mutter zu „Gretel, wo gehst du denn hin?“ und sie antwortet „Keine Ahnung.“) Diese Szenen bewahren den Film davor, Betroffenheitskino zu werden, und sie tun dem Zuschauer gut – auch wenn es manchmal ein hauchdünner Grat zu peinlicher Berührtheit ist.

Der wiederholte Schnitt von den überaus schönen, klaren Zügen der Mutter als junge Frau, hin zu den verhärmten, verwaschenen Zügen der Demenzkranken, tut weh. Umso wohltuender ist es, das Antlitz mit zunehmender Dauer des Films – was letztlich bedeutet mit zunehmender Nähe zum Tod – als immer klarer und konturierter, geradezu leuchtend, zu erleben.

Mich würde interessieren, was jemand, der näher in Kontakt ist mit Alzheimerkranken, zu diesem Film sagt. Hat es eine Bedeutung, dass die Mutter über weite Strecken die Augen so fest geschlossen hält? Kommentare also ausdrücklich erbeten!