„Alles, was bleibt“, von Annette Hohberg

Download„Mir ist da etwas passiert“, sagt Leo nach langjähriger Ehe zu seiner Frau Gesine und hebt damit ihre Welt aus den Angeln. Es ist der Klassiker, ein Fünfzigjähriger verlässt seine Ehefrau für eine deutlich Jüngere. Gesine fällt ins Bodenlose, sie braucht erst einmal ein paar Monate, um sich zu fangen. Dann nimmt sie sich eine Auszeit und fährt in das gemeinsame Ferienhaus in der Normandie, im Gepäck siebzehn Fotos, eins für jedes mit Leo verbrachte Jahr, lauter Erinnerungen an eine überaus glückliche Ehe. Sie möchte dem, was ihr passiert ist, auf den Grund gehen. Sie haben doch so gut zusammengepasst, Leo ist Gastrokritiker, und sie kocht leidenschaftlich gerne, beide sind den schönen Dingen des Lebens zugetan. Sie waren doch glücklich, oder?

Gute Freunde stehen ihr bei. Da ist Frank, ihr bester Freund seit vielen Jahren, der so viel von ihr weiß, mehr als Leo jemals wusste, und der sie immer schon geliebt hat – und bis heute liebt. Da sind die engen, gemeinsamen Freunde Camille und Jean-Luc, die sie zur Zeit der ersten Verliebtheit mit Leo in Paris kennengelernt hat. Dann taucht noch ein junger, attraktiver Staatsanwalt auf …

Bis zum Schluss hält die Autorin die Spannung hoch, wie es mit Gesines Leben weiter geht. Und sie findet schöne Bilder:„Sie jonglierte mit einem Lächeln, als wollte sie Angst in die Luft werfen und Zuversicht auffangen.“„Als Leo in die Küche kommt, hat sich Zufriedenheit in sein Gesicht gesetzt.“„Kühe, die mit großen schwarz umrandeten Augen trauerumflorte Blicke werfen.“

 

 

„Wenn du wieder da bist“, von Joanna Trollope

Der Titel hört sich nach Schnulze an und ist irreführend, viel besser ist der Originaltitel „The Soldier’s Wife“. Ein Soldat, der von einem sechsmonatigen Auslandseinsatz in Afghanistan zurückkehrt und eine Frau, die in dieser Zeit den Alltag mit kleinen Kindern und altem Hund stemmen musste und der Anwesenheit ihres Mannes entgegen fiebert – man ahnt, dass Konflikte vorprogrammiert sind.

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Alexa hat aus ihrer ersten Ehe eine Teenagertochter, die wegen der ständig wechselnden Wohnsitze der Familie ins Internat geschickt wurde und dort todunglücklich ist. Mit Dan hat Alexa dreijährige Zwillinge, die sie gut auf Trab halten. Nicht nur die Wohnsituation, das komplette Alltagsleben ist dominiert von Dan’s Einbindung in die Armee, Alexa macht das zunehmend Probleme. Sie hofft nun, gemeinsam mit Dan, Dinge klären zu können.

Aber Dan ist zwar da, aber nicht wirklich anwesend, Alexa dringt nicht zu ihm durch. „Ich rede mit dir, wenn du zurück in dieser Welt bist, die wir andern alle bewohnen.“ „Ich möchte nicht jemandem mein Herz ausschütten, der im Grunde noch so weit weg ist wie der Mond …“ Dan ist noch in einem anderen Modus, er kümmert sich um seine „Jungs“ und er kümmert sich um seinen Freund Gus, der von seiner Frau verlassen wurde und ihn doch unbedingt braucht. Dass Alexa offensichtlich unglücklich ist, macht ihn zunehmend hilfloser.

Ich schätze Trollope seit Jahren als jemanden, der sehr differenziert und einfühlsam über Familienthemen schreibt und habe fast alle ihre Bücher gelesen. Das Thema Soldatenfrau finde ich sehr interessant, letztlich kann ich nicht beurteilen, wie gut es recherchiert ist. Aber der Konflikt zwischen Dan und Alexa hat auch allgemein gültigen Charakter, und die Dialoge bringen Empfindungen, Kränkungen und Sprachlosigkeit gut auf den Punkt.

Es gibt ein paar wunderbare Figuren, die mich in ihrer Beschreibung an die große Anne Tyler denken ließen. Deren Format erreicht Trollope zwar nicht, aber ich habe das Buch sehr, sehr gerne gelesen. Wer nicht unbedingt äußere Spannung braucht, sondern sich auch an leiseren Zwischentönen im menschlichen Miteinander erfreuen kann, dem sei dieses Buch unbedingt empfohlen!

„Gebrauchsanweisung für Zürich“, von Milena Moser

51ta9wuO4nL._AC_US160_Zürich, die teuerste Stadt der Welt. Mit extrem hoher Lebensqualität (2. Platz hinter Wien). Halb Dorf, halb Metropole. Wo es superschicke Tramwagen mit eingebauten Zeitungsständern gibt. Wo der Kunde nicht König ist, und wenn er Pech hat, nicht mal Kunde. Wo Schwimmen Volkssport ist, weil es für einen Zürcher im Sommer kein größeres Vergnügen gibt als seinen täglichen „Schwumm“ im See. Dass Zürich in einer Bilderbuchlandschaft liegt, umgeben von Bergen, durchschnitten von Flüssen, und gekrönt von einem See, das wusste ich. Aber dass dieser See superklares Wasser hat und Zürich stolze 1200 Brunnen sein eigen nennt, das habe ich erst in dieser „Gebrauchsanweisung für Zürich“ erfahren, wie so manches andere Wissenswerte.

Milena Moser ist eine erfolgreiche Schriftstellerin, die in Zürich geboren ist, allerdings inzwischen ihren Lebensmittelpunkt woanders hat. Aber immer wieder zieht es sie nach Zürich zurück. Aus Mosers Worten spricht die Liebe zu ihrer Heimatstadt, aber sie unterschlägt auch nicht die partielle Zickigkeit der Zürcher, ihre Trägheit und ihre Reserviertheit gegenüber Fremden (besonders Deutschen). Sie macht mit dem Leser eine Stadtführung der besonderen Art, stöbert kenntnisreich in der Geschichte, stromert durch die verschiedenen Stadtteile, schwärmt von Ausflugszielen, die nicht so überlaufen sind und plaudert über die vielen Berühmtheiten, die sich in dieser Stadt aufgehalten haben. Und das alles auf eine sehr unterhaltsame Art und in einer geschliffenen Sprache.

Mein erster Kontakt mit Zürich war, familiär bedingt, mit dem Auto. Aber das Buch macht wirklich Lust, mit der für ihre Pünktlichkeit berühmten Schweizerischen Bundesbahn zu fahren und im Zürcher Hauptbahnhof einzulaufen, denn der alleine ist wohl schon eine Sehenswürdigkeit. Mit der saubersten öffentlichen Toilette der Welt! Und vermutlich teuersten: 2 Franken bzw. Schtutz, wie die Schweizer sagen; wer Fränkli sagt, outet sich gleich als Fremder. Die „Gebrauchsanweisung für Zürich“ ist launig, kurzweilig, unterhaltsam. Wer einen Reiseführer der ganz anderen Art sucht, liegt mit diesem Buch richtig. Leider fehlt ein Stichwortverzeichnis, das ist der einzige Kritikpunkt.

 

 

„Disziplin ohne Drama“, von D.J. Siegel & T. Payne Bryson

Kindern wesentliche Botschaften vermitteln, Konflikte friedlich lösen und Glück und Resilienz sämtlicher Familienmitglieder erhöhen – hört sich das nicht großartig an? Der Umschlagtext des Fachbuchs verspricht nicht gerade wenig … Aber in der Tat, beim Lesen habe ich mehrmals gedacht, so einen Ratgeber hätte ich auch gerne zur Seite gehabt, als meine Kinder klein waren. So viel also vorab: Wer für Kinder sorgt oder Kinder liebt, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt!
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Siegel und Payne Bryson erklären ihr Verständnis von „Disziplin“ mit der Herleitung aus dem lateinischen (discipulus = Schüler, Student, Lehrling). Es hat also nichts mit Bestrafung oder Härte zu tun, sondern es bedeutet, jemand lernt durch Unterweisung. Durchaus humorvoll (unterstützt durch Skizzen) beschreiben die Autoren, selber Eltern mehrerer Kinder, Szenen aus dem ganz normalen, täglichen Familien-Wahnsinn und zeigen Wege, konstruktiv damit umzugehen, kurzfristig und langfristig! „Verbinden“ ist ein wichtiger Begriff – es bedeutet, mit dem Kind liebevollen (Körper-)Kontakt aufzunehmen, auch wenn uns gerade so ganz und gar nicht danach zumute ist. So manches Mal stehen wir doch ziemlich fassungslos vor den Ausbrüchen oder Wutanfällen, deren Anlässe sich uns einfach nicht erschließen. Aber wenn unsere Kinder emotional ausrasten, brauchen sie uns am meisten!

Durch Konzentration auf das Warum hinter dem unerwünschten Verhalten helfen wir dem Kind, sein Gehirn zu entwickeln und sinnvolle Verhaltensweisen zu trainieren. Das bedeutet für uns Erwachsene: Emotionen akzeptieren, Worte reduzieren, beschreiben, nicht predigen … Nein sagen zum Verhalten, Ja sagen zum Kind! Im Grunde wissen wir vieles und machen es intuitiv richtig, aber es ist mit Sicherheit sinnvoll, sich bestimmter Dinge bewusster zu werden. Und gerade dann, wenn Kinder unschöne Szenen machen, quengeln und uns zum Wahnsinn treiben, ist es super, die erhellenden Erklärungen und wertvollen Tipps im Hinterkopf zu haben. Begeistert war ich auch von den einfachen Skizzen zur Beschreibung des unteren und oberen Gehirns, mit denen man (nicht nur) Kindern das „integrierte Gehirn“ erklären kann. Absolut empfehlenswert!

 

„Schuld und Sühne“, von Fjodor Dostojewski

Darf ein Mensch Bestehendes zerstören „zum Zweck der Erreichung von etwas Besserem“? Darf er „über Leichen und durch Blut vorwärtsschreiten, weil es zur Verwirklichung seiner Idee erforderlich ist?“ Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich der mittellose Student Raskolnikow, der Protagonist in Dostojewskis Klassiker „Schuld und Sühne“. 51MZKdToP9L._SX312_BO1,204,203,200_Als den „größten Kriminalroman aller Zeiten“ bezeichnete Thomas Mann den 800-Seiten Wälzer. Ein Krimi im klassischen Sinne ist „Schuld und Sühne“ nicht, eher eine psychologische Studie eines Menschen, der einen Mord begeht und an seiner Schuld zerbricht. Also ein ähnliches Thema, wie Donna Tartt es in ihrer „Geheimen Geschichte“ behandelt, und es ist faszinierend, die beiden Romane vergleichend zu lesen.

Die Geschichte spielt in St. Petersburg in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Hauptfigur Raskolnikow begeht einen Doppelmord und rechtfertigt diese Tat mit einer abstrusen Theorie über die Einteilung von Menschen in zwei Klassen, in gewöhnliche und außerordentliche. Die gewöhnlichen Menschen stellen seiner Auffassung nach das Material für die außerordentlichen dar – hier gilt ihm Napoleon als leuchtendes Beispiel, der sich seiner Meinung nach zu recht über einen gewöhnlichen Menschen, eine „Laus“ erhebt.

Dostojewski schafft es meisterhaft, dem Leser die inneren Prozesse, die immer instabiler werdende Gemütslage und fiebrigen Zustände von Raskolnikow nach dem Mord nahezubringen. Ebenso fesselnd sind die Katz- und Maus-Spiele mit dem Untersuchungskommissar, der dem Mörder zwar die Tat nicht nachweisen kann, ihn aber an den Rand des Wahnsinns treibt.

Durchhaltevermögen ist beim Lesen angesagt, es gibt seitenlange Dialoge und einige Nebenhandlungen, die ich für mich ein wenig ausgeblendet habe, weil mich die Hauptgeschichte genug beschäftigt hat. Mein Tipp: Es macht Sinn, sich die Namen der Personen und ihre Rollen aufzuschreiben, denn es ist kaum möglich, sich deren Vielfalt in der schwierigen russischen Sprache zu merken. Und, ebenso ratsam: Das Buch möglichst zügig zu lesen. Dann gelingt es besser, in diese für uns doch recht ferne Welt einzutauchen und den zeitweise geradezu süffigen Schreibstil von Dostojewski zu genießen.

 

 

„Das erste Jahr ihrer Ehe“, von Anita Shreve

41Q3FIL81bL._SX319_BO1,204,203,200_Einen Fünftausender zu besteigen ist eine riesige Herausforderung, und es ist sicher nicht ungefährlich – vor allem, wenn man untrainiert ist wie die junge Margaret, die das erste Jahr ihrer Ehe mit ihrem Mann Patrick in Afrika verbringt. Als die Idee aufkommt, gemeinsam mit zwei anderen Paaren den Mount Kenya zu besteigen, zögert die junge Frau kurz, aber sie lässt sich auf das Abenteuer ein.

Der beschwerliche Aufstieg führt nicht nur Margaret an ihre Grenzen; ihre fehlende Fitness behindert die Gruppe und vertieft Spannungen, die schon vorher schwelten. Als die sechs einen Gletscher überqueren, kommt es zur Katastrophe, und einer von ihnen stürzt in den Tod. Alle sind sich einig: Margaret trägt die Schuld daran. (Die Begründung dafür ist ein wenig dünn).

Danach ist nichts mehr wie es war. Das junge Ehepaar muss sich mit Themen wie Schuld, Vergebung, Eifersucht und Entfremdung auseinandersetzen. Ein Jahr nach dem Unfall auf dem Gletscher schlägt Patrick vor, erneut den Mount Kenya zu besteigen, dieses Mal bis zum Gipfel, um mit den tragischen Ereignissen von damals endgültig abzuschließen und wieder nach vorn zu schauen. Kann das die Lösung für die Eheprobleme sein?

Shreves Stil ist kühl, stellenweise ist es fast eine Art Berichterstattung. Ihre Themen drehen sich stets um Liebesbeziehungen, um Paare, die auf die eine oder andere Art in Schwierigkeiten geraten oder unter komplizierten Bedingungen zueinander finden. Sie ist eine genaue Beobachterin, die typischen Beziehungsszenen (Eifersucht, Gefühl von Unzulänglichkeit, Sprachlosigkeit, Gleichgültigkeit) schildert sie so, dass man sich darin wiedererkennen kann. Anita Shreve ist eine Vielschreiberin; ich habe nahezu alle Romane von ihr gelesen und fand sie alle gut, die meisten allerdings besser als diesen.

Fazit: nicht ganz die übliche Shreve-Qualität, aber doch gut zu lesen.

 

„Die geheime Geschichte“, von Donna Tartt

51WgcfH0JtL._SX340_BO1,204,203,200_Auch wenn ich wieder lange gebraucht habe, bis ich Feuer gefangen habe: „Die geheime Geschichte“ ist ein fantastisches Buch, fantastisch geschrieben.

Der Ich-Erzähler Richard Papen ist überaus glücklich, als er ein Stipendium für den College-Besuch bekommt und dadurch auch dem ungeliebten Elternhaus in einem kalifornischen Provinznest entfliehen kann. Begeistert nimmt er seine Studien im Hampden College in Vermont, Neuengland, auf. Eine kleine Studentengruppe mit einer geheimnisvollen Aura erweckt schnell sein Interesse. Die fünf studieren Griechisch bei einem skurrilen Professor, der keinesfalls weitere Schüler unterrichten möchte. Doch es gelingt Richard aufgenommen zu werden in diesen exklusiven Zirkel mit den schillernden Charakteren: Henry ist der heimliche Anführer der Gruppe, ein extrem schlauer Kopf; Francis, ein reicher Erbe, ist Neurotiker und Exzentriker zugleich; die Zwillinge Charles und Camilla sind auf sich gestellte, aufs engste miteinander verbundene Waisen; und last not least, ist da Bunny, der gutmütige und etwas trampelige Schnorrer – allesamt eine Mischung aus leicht dekadenten, arroganten und doch liebenswerten Schnöseln.

Griechisch büffeln, ausgedehnter Alkoholkonsum zu jeder Tageszeit und feucht-fröhliche Wochenenden auf Francis’ feudalem Landsitz bestimmen ab nun Richards Leben. Er ist begeistert – doch je mehr Zeit er mit der Gruppe verbringt, desto mehr wird ihm klar, dass es da ein dunkles Geheimnis gibt, das die Freunde verbindet. Eine unschöne, geheime Geschichte … Wie Richard mehr und mehr in den Bann dieser Geschichte gerät und sich die Dinge nach und nach verselbständigen, das ist wirklich großartig geschrieben und hat mich auf eine süchtig machende Art in das Buch hineingezogen. Tartt beobachtet messerscharf und schreibt super geschliffen. Ein Beispiel für ihren Stil, es geht um Bunny: „(…) geleitet nur durch die trüben Leuchtfeuer von Impuls und Gewohnheit, segelte er durch die Welt im Vertrauen darauf, dass sich auf seinem Kurs keine Hindernisse erheben würden, die so groß waren, dass sie nicht durch die bloße Wucht der Vorwärtsbewegung untergepflügt werden könnten.“ Diesem Satz folgt ein wichtiges Aber, das hier nicht näher ausgeführt werden kann, weil ich vom Inhalt nicht mehr verraten möchte.

Nur so viel, es ist ein Krimi der ganz anderen Art, eher eine Psychostudie. Wenn man sich darauf einlässt und genügend Muße zum Lesen mitbringt, wird man belohnt mit atmosphärisch dichten Bildern, mit Hochspannung und viel Stoff zum Nachdenken

„Kindeswohl“, von Ian McEwan

41iTo+p40gL._SX314_BO1,204,203,200_„Ich liebe dich, aber bevor ich tot umfalle, will ich noch eine große, leidenschaftliche Affäre haben.“ Mit diesen Worten bittet Jack, ein Geschichtsprofessor, seine Frau Fiona völlig unvermittelt um die Billigung seiner außerehelichen Beziehung. Fiona Maye, eine kinderlose Frau mittleren Alters, ist eine erfolgreiche und angesehene Familienrichterin, die sich mit einer Reihe schwieriger Fälle herumschlägt. Und just jetzt kommt noch der brisante Fall eines 17-jährigen, leukämiekranken Jungen auf ihren Tisch. Bekommt er nicht in kürzester Zeit eine Bluttransfusion, wird er sterben. Aber der Junge und seine Eltern verweigern die rettende Maßnahme. Aus religiösen Motiven – es sind tiefgläubige Zeugen Jehovas – lehnt die Familie die Bluttransfusion vehement ab. Völlig aus der Bahn geworfen von ihren privaten Problemen, muss Fiona innerhalb kürzester Zeit ein Urteil fällen – gegen den Willen des Kindes und der Familie entscheiden, oder dem sicheren Tod des Jungen Vorschub leisten?

Ian McEwan hat den von mir sehr geschätzten Roman „Abbitte“ (mit Keira Knightley verfilmt) geschrieben, auch „Saturday“ hat mir gut gefallen. Im Buch „Kindeswohl“ fasziniert mich die Verquickung der beiden Themen: die Ehe- und Lebenskrise der Richterin und der berufliche Zwang zu funktionieren, weil Menschenleben davon abhängen. Und besonders mag ich McEwans Stil, scharfsinnig, präzise, klug: „Sie überschlug mit Ehefrauenblick, dass er drei Jacketts mitgenommen hatte.“ „Als ihr Wecker klingelte, fuhr sie hoch und starrte verständnislos auf die leere Bettseite.“ „Sie hätte eine ihrer drei Freundinnen anrufen können, aber sie wollte sich nicht selbst dabei zuhören müssen, wie sie ihre Situation erklärte, und diese damit unwiderruflich real machen.“

Wie wird Fiona entscheiden, und wird sie ihre Ehe retten können? Spannend und sehr lesenswert.

Lebenszeichen

Liebe Lese-Freunde,

in der letzten Zeit habe ich wenig von mir hören lassen. Das soll jetzt wieder besser werden. Noch in 2015 gibt es die nächste Rezension, von nun an mit Cover, damit ihr euch gleich ein Bild machen könnt.

Fröhliche Weihnachten und viel Freude im neuen Jahr – und genügend Zeit und Muße zum Lesen!

Ilsebill

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„Brehm 46“, von Ulrike Reinker

Die „Brehm“, das ist eine viel befahrene, vierspurige Straße in Düsseldorf, die sich durch Abwesenheit von (klassischer) Schönheit auszeichnet. Mittendrin steht das fünfstöckige Mietshaus mit der Hausnummer 46, in dem Reinker ihren Roman ansiedelt. Die Bezeichnung „Roman“ ist etwas irreführend, es ist eine Abfolge von Erzählungen einzelner Bewohner. Das gemeinsame Treppenhaus in der Brehm 46 und ein paar Querverbindungen sorgen für ein wenig Zusammenhalt.
Reinker lässt uns hinter die Fassade sehen, indem sie in die Rolle des jeweiligen Protagonisten tief eintaucht und in Ichform erzählt. Da enthüllt eine kontrollwütige, schrullige Rentnerin, die ihre Schwester drangsaliert, peu à peu und äußerst widerwillig ihre Lebensgeschichte, ein schwuler Moslem, der von seiner Familie terrorisiert wird, lässt uns mitleiden, wir bangen mit einer jungen Frau, die ungewollt schwanger wird und einer anderen, die nur zu gerne schwanger werden würde – kurzum, es gibt nichts, was es nicht gibt. Allesamt sind es schillernde, schrullige, stark gezeichnete Charaktere, die einem im Laufe der Erzählungen immer sympathischer werden. Dieser Aspekt hat mir sehr gut gefallen. Denn: Wie oft sehen wir Menschen und fällen vorschnell ein Urteil, oder stecken sie in eine Schublade. Wenn wir die Chance bekommen, sie näher kennenzulernen, etwas über ihre Geschichte erfahren, über ihre Sorgen, Ängste und Nöte, dann wächst die Sympathiekurve wie von selbst. Genau das passiert hier; Ulrike Reinker öffnet die Türen für uns, sorgt für Einblick und Verständnis, das ist ihr gut gelungen.

Die Sprache ist den einzelnen Personen angepasst, vieles ist sehr locker, sehr schnodderig, flapsig geschrieben, das ist mir persönlich manchmal ein Hauch zu viel. Wunderbar treffend die Ausdrucksweise der „Sozialfuzzis“ und „übriggebliebenen 68er“ Jutta und Bernd: „Du, wir finden dass du jetzt echt soweit bist (…), wir wollen jetzt auch mal wieder unsere Beziehung leben, das ist ganz wichtig.“ (…) „Gut, dass du es ansprichst. Wir haben das wirklich viel zu lange gemacht. Da haben wir unser Erziehungsziel nicht erreicht.“
Fazit: Ein kurzweiliges, leicht weg zu lesendes Buch, das durchaus auch Gedankenanstöße gibt.