„Menschenkind“, von Toni Morrison

Was für ein Buch! Genauso sehr wie der Inhalt beschäftigen mich viele Fragen: Hätte ich dieses Buch auch gelesen, wenn Toni Morrison nicht den Pulitzer-Preis dafür bekommen hätte, wenn es nicht von einer Nobelpreisträgerin geschrieben worden wäre? Warum habe ich mich so schwer damit getan – zumindest phasenweise? Will ich mich nicht mehr anstrengen? Bin ich zu ungeduldig? Liegt es am Mystischen?

Die Geschichte erzählt von der ehemaligen Sklavin Sethe, die sich, hochschwanger, aus der Gefangenschaft befreien kann, und mit ihren drei bzw. vier Kindern bei ihrer Schwiegermutter unterkommt. Als die Geschichte einsetzt, lebt sie nur noch mit einem Kind zusammen. Ihre beiden halbwüchsigen Söhne sind auf und davon, ihre kleine Tochter lebt nicht mehr. Ihren Tod kann Sethe nicht verwinden. Der Geist des kleinen Mädchens spukt in ihrem Haus.

Morrison entrollt langsam, in vielen Rückblenden, Sethes langen Leidensweg. Dabei beschreibt sie nicht nur die von den Sklaven tagtäglich erlittenen Grausamkeiten, sondern führt eindringlich vor Augen, wie sich der Verlust der Freiheit für diese Menschen anfühlt. Sie schreibt so, dass einem permanent Bilder vor Augen kommen (ich musste häufig an den Film „Die Farbe Lila“ denken), man hört die Geräusche und Gesänge, hat die Gerüche in der Nase. Morrison schreibt poetisch, zart und gleichsam schwingend auf der einen Seite, aber auch zupackend und mit unerbittlicher Härte und Genauigkeit auf der anderen. Gleichzeitig lässt sie vieles in der Schwebe und nicht alles Verwirrende löst sich auf. Im Netz gibt es den Tipp, das Buch zweimal zu lesen, um es besser zu verstehen – aber auch die Anmerkung, wer will so ein schwieriges Buch denn gleich zweimal hintereinander lesen …

Aber dennoch: Das Buch ist auf jeden Fall sehr sehr lesenswert, man sollte sich Zeit dafür nehmen! Und es ist ein Buch, das sich gut für einen Lesezirkel eignet, denn im Gespräch mit anderen durchdringt man die Geschichte bestimmt besser, und erfahrungsgemäß beschäftigen jeden Leser andere Aspekte.

„Gott, hilf dem Kind“, von Toni Morrison

Natürlich hat auch dieses Buch der Literaturnobelpreisträgerin den Rassenkonflikt zum Thema. Aber es geht noch um viel mehr in dieser Geschichte. Es geht um Bindungen und fehlende Bindungen innerhalb der Familie, um tiefgreifende Verletzungen, um prägende Erfahrungen in Kindheit und Jugend. Und um Mut, Würde, Anstand und Liebe. Lula Ann kommt zum Entsetzen ihrer Mutter Sweetness als tiefschwarzes Baby auf die Welt, der Vater verlässt die Familie, weil er nicht glauben mag, dass dieses Kind von ihm ist. Sweetness erzieht ihre Tochter restriktiv, mit dem hauptsächlichen Ziel der Anpassung, um sie vor Rassismus zu schützen. Doch Lula Ann geht ihren eigenen Weg, um mit ihrer Andersartigkeit umzugehen und sich von den Zwängen zu befreien. Sie wächst zu einer strahlenden Schönheit heran und nutzt ihr Aussehen gnadenlos, um ihre Hautfarbe vergessen zu machen. So wird sie überaus erfolgreich, inszeniert sich regelrecht, kleidet sich ausschließlich in Weiß und nennt sich Bride. Sie geht eine Beziehung mit Booker ein, der ebenfalls mit den Dämonen seiner Vergangenheit kämpft. Als er sie völlig unvermittelt verlässt und verschwindet, gerät Lula Anns – Brides –  Leben völlig aus den Fugen. Sie setzt alles daran, ihn zu finden.

Morrison findet starke Worte für die verletzten Seelen: „Wie lange hatte ihn (Booker) das Trauma seiner Kindheit schon vom Schwung und der Woge des Lebens abgeschottet.“ „Und was ihr (Lula Ann) den Schock erträglich machte, war die Befriedigung, berührt und behandelt zu werden von einer Mutter, die körperlichen Kontakt mied, wo sie nur konnte.“ Morrison verleiht abwechselnd den verschiedenen Protagonisten ihre Stimme und man folgt den Berichten gebannt. Bekommen Bride und Booker eine Chance, sich mit ihren verwundeten Seelen zu treffen und sich zu helfen oder gar zu heilen? Die Geschichte hält noch eine größere Überraschung bereit …