Geisterfahrten, Theres Roth-Hunkeler

Wer Spannung erwartet, ist hier falsch. Unaufgeregt, in einer klaren, schönen Sprache und mit einer Klugheit, der man die Lebenserfahrung anmerkt, erzählt die Autorin die Geschichte einer Familie, in der es viele früh Verstorbene und viele Geheimnisse gibt. 

Die kürzlich pensionierte Ich-Erzählerin Lisa macht mit ihrem neunzehn Jahre älteren Halbbruder eine Reise – bevor es zu spät ist. Denn Stern ist alt und krank und Lisa, die Erzählerin, möchte gerne von ihm noch etwas über die verwickelten Familienverhältnisse erfahren. Stern (sein eigentlicher Name ist Ernst) verliert im Alter von zweieinhalb Jahren seinen Bruder und seine Mutter, die bei einem etwas mysteriösen Verkehrsunfall (der sich tatsächlich so ereignet hat) ums Leben kommen. Seine Tante nimmt mehr und mehr den Platz ihrer Schwester ein, erst als Mutter, dann auch als Ehefrau. Für sie ist das Kind ihr Augenstern, aus Ernst wird Stern. Viele Jahre später bekommt sie mit dem Witwer, Sterns Vater, noch eine Tochter, die Ich-Erzählerin Lisa. Sie kennt die alten Geschichten nicht, denn die Familie hat sich im Schweigen eingerichtet. Aber sie spürt die Macht der Vergangenheit, und sie spürt eine Verbindung zu den früh Verstorbenen. Das treibt sie an, Fragen zu stellen. 

Es geht darum, wie wir geprägt werden durch unsere Vorfahren und unsere Familienverhältnisse; und wie Menschen mit dem Leben umgehen, in das sie gestellt werden. Es geht um Verpflichtungen und Verbindungen, seien es die für die Alten und Kranken, die unsere Nähe brauchen, seien es die zu den (erwachsenen) Kindern, von denen wir wissen, dass wir sie loslassen sollten, uns aber trotzdem um sie sorgen. Und die Autorin bringt uns den Gedanken nahe, man kann Menschen vermissen, die man nie gekannt hat. Die nur als eine Art Geister durch unser Leben ziehen. 

Es klingt nach schweren Themen, aber Roth-Hunkeler gelingt es, immer wieder Leichtigkeit dazwischen zu mischen und die Schönheit und das Heitere von Alltagsmomenten aufblitzen zu lassen. Dazu trägt auch das Auftauchen eines Mannes bei, der etwas in Lisa zum Klingen bringt … So wird ihre erste Reise nach dem Renteneintritt zu einer Kreuzung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen.

PS: Sterns Standwaage habe ich in mein tägliches Gymnastikprogramm aufgenommen. 🙂

Und noch eine kleine Anmerkung am Rande:  Ab und an tauchen schweizerische Begriffe auf. Das Wort „verunfallen“ ist in der Schweiz sehr gebräuchlich, inzwischen liest man es in Deutschland auch häufig – ich werde mich nie daran gewöhnen, ich finde es scheußlich.

Mit Blick aufs Meer, Elizabeth Strout

Dieses Buch macht mich endgültig zum Fan von Elizabeth Strout. Es gefällt mir noch viel besser als ihr kürzlich hier vorgestellter Roman Alles ist möglich. Auch hier sind es wieder einzelne Geschichten über die Menschen in einer Kleinstadt in Neuengland. Aber es gibt eine „Hauptdarstellerin“, Olive Kitteridge, eine pensionierte Mathelehrerin in ihren Siebzigern, die in (fast) allen Geschichten auftaucht und so eine Klammer zwischen den Erzählungen bildet. Eine Frau mit Ecken und Kanten und einer überaus schwierigen Beziehung zu ihrem Sohn. Aber auch andere Personen tauchen mehrmals auf, Erzählstränge einer Geschichte werden in einer anderen fortgeführt. So lernt man die Bewohner des Dorfs langsam kennen und schließt sie ins Herz. 

Es geht um Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Männern und Frauen, ums Älterwerden, um Lebenslügen, Krankheit, Tod, Trauer und um die kleinen Freuden des Alltags. Meisterhaft beobachtet und geschliffen erzählt. Mit viel Wärme und einer Prise Humor. Auch wenn Strout in diesem Roman ebenso wie in Alles ist möglich wieder einiges offen lässt, sind die Geschichten hier doch runder und spannender. Und mit der letzten Geschichte entlässt die Autorin ihre Leser mit einem positiven Ausblick. Für den Roman hat Elizabeth Strout den Pulitzerpreis erhalten.

Impfung mit AstraZeneca

Der Weg zum Termin 

Am 24. Februar habe ich mich als Impfwillige in der Priogruppe 2 online registriert. Und zusätzlich habe ich mich etwas später als „Springer“ eingetragen. Das ist eine Möglichkeit für Kurzentschlossene, die es in 30 Minuten ins Impfzentrum schaffen, wenn Impfstoff übrigbleibt. Anfang April kam der Bescheid für einen Springertermin, der fünf Tage später terminiert war – unter einem Springertermin hatte ich mir etwas anderes vorgestellt, aber nun gut. So konnte ich noch mal in Ruhe überlegen, ob ich mich wirklich mit AstraZeneca impfen lassen wollte. Ich hatte damit gerechnet, dass es dieser Impfstoff sein würde, gehofft hatte ich auf Biontech, wie wohl die meisten von uns. Ich hatte keine Angst vor den minimalen Risiken einer Thrombose und ich glaube, Medikamente ohne Nebenwirkungen gibt es nicht – da muss man nur mal in seinen Arzneischrank schauen. Auch die kurzzeitigen Nebenwirkungen wie Fieber, Kopfschmerzen und ähnliches, von denen berichtet wird, schreckten mich nicht. Sie zeigen ja nur, dass das Immunsystem reagiert. Aber ich habe ein Vertrauensproblem mit diesem Hersteller, seiner Kommunikation, seiner Unzuverlässigkeit – seinem gesamten chaotischen Management. Wie sagte eine Freundin: Schlechtes Karma! Da tauchen dann auf einmal  29 Millionen geheim gelagerter Impfdosen in Italien auf! Welche Hiobsbotschaften gibt es zukünftig rund um AstraZeneca? Außerdem hat dieser Impfstoff eine etwas geringere Wirksamkeit als der von Biontech, und gegen die südafrikanische Mutante wirkt er wohl gar nicht (auch bei Biontech gibt es aber inzwischen Zweifel). Und der Abstand zwischen den beiden Impfdosen ist besonders lang – drei Monate – erst danach hat man den vollen Impfschutz. Ich habe mir also bei aller Freude über das Terminangebot die Freiheit genommen, darüber nachzudenken.

Sollte ich den Springer-Termin verstreichen lassen und auf den „normalen“ Termin warten, wann würde der kommen, und wäre es dann überhaupt der gewünschte Impfstoff? Ich diskutierte das Für und Wider mit meinen Mann. Aber eigentlich war klar, ich nehme den Termin, Impfen ist Bürgerpflicht und es muss ja weitergehen – es kann nicht sein, dass jetzt alle „rumzicken“ wegen AstraZeneca und so das Impftempo behindern. In Hessen werden 30 bis 50 % der Termine mit diesem Impfstoff nicht wahrgenommen und das Schlimme ist, sie werden auch nicht abgesagt! Das empfinde ich als Skandal! Es geht doch beim Impfen nicht nur um die eigene Sicherheit, sondern dass ich damit auch einen Beitrag für die Gemeinschaft leiste, den einzig sinnvollen Beitrag zur Eindämmung der Pandemie. Und wer nicht absagt, macht nicht Platz für diejenigen, die dringend geimpft werden wollen.

Und so ist es mir ergangen

Nach den Berichten über einstündige Aufenthalte im Impfzentrum war ich total überrascht, wie schnell das Impfen über die Bühne ging. Innerhalb von 20 Minuten war ich wieder draußenBei der Anmeldung diskutierte vor mir ein älteres Ehepaar mit dem armen Menschen hinter dem Schalter über die Möglichkeit, einen anderen Impfstoff als AstraZeneca zu erhalten. Der Mitarbeiter blieb freundlich, das Ehepaar hartnäckig, sah dann aber doch ein, dass nichts zu machen ist und fügte sich in sein „Schicksal“ – in Form einer Impfung, die Millionen Menschen liebend gerne erhalten hätten.

Und noch ein wunderbares Schmankerl: In der Schlange vor dem Zentrum befand sich eine ältere Frau, die plötzlich ausscherte, sich bückte und etwas in der Wiese suchte. Wenig später reihte sie sich wieder ein, erklärte, sie habe vier vierblättrige Kleeblätter gefunden und eins davon schenkte sie mir. Würden wir uns nicht in Corona-Zeiten befinden, ich hätte sie gedrückt und geherzt! 

PS: Die Impfung liegt zwei Tage zurück, außer einem leicht schmerzenden Arm und zwischenzeitlichen Kopfschmerzen habe ich keine Nebenwirkungen.

Writers & Lovers, Lily King

Hätte mir nicht eine Freundin mit ähnlichem Lesegeschmack das Buch empfohlen, ich wäre wohl nach den ersten dreißig Seiten ausgestiegen. Am Anfang habe ich mich wirklich schwer getan, aber dann hat es ’Klick’ gemacht und die Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Die Protagonistin Casey erzählt in Ich-Form von ihrem aus der Bahn geratenen Leben. Sie schlägt sich als Kellnerin durchs Leben, wohnt in der Garage eines Bekannten und hat noch nicht einmal eine Krankenversicherung, dafür aber jede Menge Schulden. Die Trennung von ihrem Freund und der plötzliche Tod ihrer Mutter haben sie in ein emotionales Chaos gestürzt, und als wäre das alles nicht schon genug, schafft sie es nicht, den Roman, an dem sie seit sechs Jahren arbeitet, fertig zu schreiben. Ihre Freundin Muriel und ihre Arbeitskollegen sind ihr einziger Halt. Dann tauchen zwei sehr gegensätzliche Männer in ihrem Leben auf, der eine erfolgreicher Autor, Witwer und Vater von zwei süßen Söhnen, der andere charmant, aufregend und unzuverlässig. Gleichzeitig bringen die Arztbesuche, die dank kurzzeitiger Versicherung möglich werden, alles andere als positive Ergebnisse …

In diesem Spannungsfeld versucht die knapp dreißigjährige Casey, ihr Leben zu sortieren und ihren Weg zu finden. King schreibt sehr anschaulich – so habe ich jetzt ein gutes Bild vom Job einer Kellnerin und eine Ahnung davon, wie es in der Küche eines Lokals zugeht. Ich werde nun mit anderen Augen essen gehen – wenn wir wieder dürfen …

Auch Caseys emotionale Achterbahnfahrten konnte ich sehr gut nachvollziehen, ebenso wie ihre Ängste und Hoffnungen rund um ihr Romanmanuskript. Das alles liest sich spannend, ist gut formuliert und lässt einen zwischendurch auch mal kräftig grinsen. Nur das Ende ist mir ein bisschen zu glatt gebügelt. Insgesamt aber sehr lesenswert.

Männer in Kamelhaarmänteln, Elke Heidenreich

So schön! Sie hat es einfach drauf, die Elke Heidenreich. Egal, über was sie schreibt – ob es das sündhaft teure, aber viel zu kleine Designerkleid ist, das sie einfach nur kauft, weil es schön ist. Oder die überaus edle Klamotte, mit der sie ihren toten Kater Nero Corleone einwickelt, der ihr zu Ruhm, Ehre und sehr viel Geld verholfen hat. Sie schreibt mit Herzblut, kurz, knapp und es sitzt. Sie kennt die Menschen, sie hat viel erlebt, sie beobachtet genau und sie formuliert perfekt – das Büchlein ist ein Schatz.

Es sind lauter Geschichten, die klarmachen, wie wichtig Kleidung ist, soviel mehr als wärmender und schützender Stoff. Und es sind Geschichten, die viele Erinnerungen wachrufen. Ich hatte ganz vergessen, dass es früher Sonntagskleider gab … Und dass der Frühling eine ganze besondere Jahreszeit war: Als kleines Mädchen fieberte ich mit meiner Freundin Ostern entgegen, weniger wegen der Süßigkeiten (Geschenke gab es damals noch nicht), als vielmehr wegen der Aussicht, erstmals wieder Kniestrümpfe tragen zu dürfen – unabhängig von der Temperatur ;-). Und weil es eigentlich immer irgendein neues Teil gab, das wir stolz ausführten. 

Abends schaffe ich es häufig nicht, lange zu lesen; da sind die kurzen Kapitel, in denen Heidenreich ihre Geschichten rund um Kleidung rankt, wirklich perfekt. Danach legt man sich mit einem Lächeln auf den Lippen zum Schlafen. Selbst wenn es eine traurige Anekdote ist.

Alles ist möglich, Elizabeth Strout

Neun geschickt ineinander verwobene (Kurz-)Geschichten erzählen von Menschen in einer amerikanischen Kleinstadt. Strout erinnert mich in der Art und Weise, wie sie ihren Protagonisten nahekommt, ihre Schwächen, Vorlieben, Sehnsüchte, ihre Hoffnungen und ihr Scheitern beschreibt, stark an die von mir sehr geschätzte Anne Tyler. Beide sind Pulitzer-Preisträgerinnen.

Auch Strout schaut genau hin, beobachtet die Menschen in ihrem Alltag, erzählt unsentimental von ihrem oft unglücklichen Leben und bringt uns die Personen durch lebendige, teilweise skurrile, teilweise komische Dialoge näher. Manches lässt die Autorin in der Schwebe, es bleibt dem Leser vorbehalten, sich einen Reim darauf zu machen. Es ist nicht so sehr der Fortgang der Geschichten, der fesselt, es sind die leisen Zwischentöne, die es aufmerksam zu lesen gilt. Strout schildert die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle, es ist das pralle Leben mit allen seinen Facetten, das hier meisterhaft beschrieben wird.

Schreibtisch mit Aussicht, Ilka Piepgras (Hrsg.)

Vierundzwanzig bekannte und bedeutende Schriftstellerinnen äußern sich zum Thema Schreiben. Faszinierend, wie unterschiedlich die Autorinnen die ihnen gestellte Aufgabe angehen – das reicht von intellektuellen und philosophischen Reflexionen bis zu pragmatischen Beschreibungen des Schreibhandwerks. 

Die Autorinnen erzählen von Gewohnheiten, Schwierigkeiten, Abläufen, von Routinen und Ritualen, von Kämpfen und Konflikten. Vom so wichtigen Gefühl grenzenloser Zeitvorräte. 

Anne Tylers Beitrag heißt Ich schreibe nur und drückt damit aus, wie die Tätigkeit des Schreibens häufig von anderen gesehen wird. In ihrem typischen, leicht selbstironischen Stil erzählt sie, wie bei ihrem im Kopf fertigen Roman beim Schreiben der Alltag immer wieder dazwischen kommt. Wie schwer es ist, ihr Leben als Mutter mit dem einer Autorin unter einen Hut zu bringen. Aber wie sehr die Kinder auch ihr Schreiben bereichert haben. („da war mehr in mir, woraus ich schöpfen konnte.“) Ihr Beitrag ist so wie ihre Bücher, wohl gesetzte Worte, wunderbar zu lesen.

Auch Elena Ferrante beschäftigt sich im Rahmen einer schriftlichen Befragung (den Begriff Interview lehnt sie explizit ab) mit dem Thema Mutterschaft. Ihr wird die Frage gestellt: „Glauben Sie eine Frau, die keine Mutter ist, ist in der Lage, ihr tiefstes Menschsein zu erleben? Anders gesagt: Glauben Sie, das Leben gewährt jedem, der schreibt, von Natur aus genügend Erfahrungen, aus denen er schöpfen kann?“ Besonders der zweite Teil der Frage interessierte mich brennend, Ferrante gibt aber leider nur eine ausweichende Antwort, enttäuschend.

Mariana Lekys Essay ist kurz, knapp, köstlich, ein kleines Kunstwerk. Ich liebe ihren Humor und ihre verdichtete Art zu schreiben. 

An Joan Didions Beitrag mag ich ihre Definition von Schriftstellerin: „Ein Mensch, der seine konzentriertesten und leidenschaftlichsten Stunden damit verbringt, Wörter auf Papier zu ordnen.“ Und ebenso ihre Definition von Grammatik, die nämlich: „unendliche Macht besitzt, denn die Struktur eines Satzes zu verschieben heißt, die Bedeutung zu verschieben, kategorisch und radikal.“ (Das ist genau das, was mich beim Schreiben auch immer wieder aufs Neue fasziniert.)

In (fast) jedem der Beiträge findet sich etwas, das mich anspricht und zum Nachdenken anregt. Ich kannte nicht alle Schriftstellerinnen, habe aber durch diese Lektüre Lese-Anregungen für Titel von ihnen erhalten. Insgesamt ist es ein buntes Kaleidoskop und wer sich für das Schreiben interessiert und gerne einen Einblick in das Leben und Arbeiten berühmter Schriftstellerinnen erhalten möchte, wird hier auf jeden Fall fündig.

Die Herrenausstatterin, Mariana Leky

Für Katja, die Protagonistin, entwickeln sich die Dinge nicht gut. Kurz bevor ihr Mann unvermittelt stirbt, erfährt sie, dass er sie mit einer Jüngeren, Schöneren betrogen hat. Und anschließend verliert sie nicht nur ihren Job, sondern auch den Boden unter den Füßen. Aber dann tauchen unvermittelt zwei Gestalten in ihrer Wohnung auf, ein Toter namens Blank, den nur Katja zu sehen vermag, und ein Feuerwehrmann, dem Katja nicht so recht glauben will, dass er Feuerwehrmann ist.

Eine irrwitzige Geschichte entwickelt sich, fulminant geschrieben, unglaublich lustig, es ist ein großer Spaß, ein einziges Vergnügen, sie zu lesen. Und dann war ich in der Mitte des Buches angelangt und dachte, hoppla, was passiert denn hier, ist jetzt die Luft raus? 

Vor einiger Zeit hatte ein Freund gefragt, warum eigentlich alle Romane in der Mitte einen Durchhänger haben – ich hatte mir vorgenommen, genauer darauf zu achten. Kurz gesagt, da ist was dran!

Aber nur selten habe ich einen so krassen Durchhänger erlebt wie bei diesem Buch. Fast hätte ich mir gewünscht, das Buch hätte vor dem Ausflug des Trios nach Holland geendet. Oder Leky hätte sich auf eine Kurzgeschichte beschränkt, kurz kann sie unglaublich gut. (Ich habe gerade einen genialen kurzen Essay von ihr gelesen, dazu mehr in einer späteren Buchbesprechung). Hier wirkt auf einmal vieles sehr bemüht, konstruiert, um Informationen unterzubringen. Zum Ende hin wird die Geschichte dann zwar wieder flotter, den Energielevel der ersten Hälfte erreicht sie aber nicht mehr. Dennoch ist das Buch lesenswert, die ersten knapp hundert Seiten sind ein großes Lesevergnügen. An Lekys wunderbaren Roman „Was man von hier aus sehen kann“, reicht dieser aber nicht heran.

Matthias Brandt, Blackbird

Dieses Mal ein Leseerlebnis mit Anlauf! Zu Beginn dachte ich, das Buch gefällt mir zwar, aber man muss es nicht unbedingt lesen. Die Jugendsprache erschien mir anfangs etwas aufgesetzt. Aber dann bin ich ganz eingetaucht in die Welt des sechzehnjährigen Protagonisten und sehr bewegt wieder aufgetaucht.

Es ist ein klassischer Coming of Age Roman, der sich zwischen den Polen Liebe und Tod als Möglichkeiten im Leben bewegt. Ich bewundere Brandt, wie er die Lebens- und Gefühlswelt eines Jugendlichen mitsamt der Sprache abbildet. Aber auch für alle, die sich noch an ihre Jugend in den Siebziger Jahren erinnern, ist es eine wunderbare Lektüre. 

Vom Inhalt möchte ich gar nicht viel verraten. Neben den ganz großen Themen erste Liebe und lebensbedrohliche Erkrankung geht es um Freundschaft, Mut, Abgrenzung von der Familie und um den Schulalltag.  

Der Roman gipfelt in einer (sehr langen) fulminanten Szene, in der alles drin ist – die ganze Bandbreite des Lebens – gespickt mit wunderbarem Humor. Man lacht, obwohl einem zum Weinen zumute ist. Das ist wirklich hohe Kunst. Und nicht nur das Ende, aber das ganz besonders, zeugt von Brandts genauer Beobachtung, seiner Menschenkenntnis, viel Lebensweisheit und einem meisterhaften Umgang mit Sprache. Sehr sehr lesenswert!

Ulrike Renk, Seidenstadt-Saga

Es gibt so viele unterschiedliche Leseererlebnisse! In mein letztes bin ich ein wenig hineingestolpert. Gerade hatte ich noch zu einer Freundin gesagt, ich könnte mir vorstellen, einen Roman über meine Heimatstadt Krefeld, die ehemals berühmte Samt- und Seidenstadt, zu schreiben –  da stoße ich auf eine Buchreihe: Die große Seidenstadt-Saga. Sie spielt in Krefeld und England, und damit war natürlich klar, ich will sie lesen.

Aber zunächst war ich gar nicht begeistert: Umschläge und Titel lassen an Rosamunde Pilcher denken, der Schreibstil ist eher schlicht, Fehler fallen einem nur so entgegen, nur sehr am Rande geht es um Mode und Stoffe und um die Samt- und Seidenzeit Krefelds. Aber ich bin drangeblieben, warum?

Die Romane basieren auf der wahren Geschichte der jüdischen Familie Meyer aus Krefeld, für die nach der Progromnacht 1938 nichts mehr ist, wie es war. Die Autorin stützt sich auf die Tagebücher von Ruth, der älteren der beiden Meyer-Töchter. Die Kindheit von Ruth ist unbeschwert und behütet. Diesem Teil widmet Renk viel Raum, aber dann zieht sich langsam die Schlinge zu, und der Autorin gelingt es unglaublich gut, den Leser die permanente Angst der Juden spüren zu lassen. Man versteht, dass diese Ängste immer Teil des Lebens sein werden, auch noch nach vielen Jahren. Man verfolgt atemlos, wie den jüdischen Menschen immer mehr Freiheiten genommen werden, wie ihnen Kino- und Schwimmbadbesuche untersagt werden, sie ihre Jobs verlieren, ihre Häuser, sie gezwungen werden, ihr Erspartes an das Regime abzutreten. Und man ist mit ihnen gemeinsam fassungslos, dass sich so jemand wie Hitler tatsächlich an der Macht hält, ebenso wie man, genau wie sie, nicht glauben kann, dass die Welt nach den fürchterlichen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs erneut auf einen Krieg zusteuert. Man kennt die Fakten und verfolgt doch ungläubig und erschüttert den Werdegang der Geschichte – und das ist wirklich süffig geschrieben. 

Im Anhang erläutert die (Krefelder) Autorin, wie sie auf das Thema gekommen ist: Bei einem Besuch der Villa Merländer, des Krefelder NS-Dokumentationszentrums, in dem Ruths Tagebücher aufbewahrt werden, traf sie zufällig auf einen Nachfahren Ruths. So wurde die Idee für die Roman-Reihe geboren. Man erfährt auch, dass Ruth Meyer den Kontakt nach Krefeld gehalten hat, 1987 hat sie dort vor Schülern über ihre schrecklichen, unfassbaren Erlebnisse in der Nazi-Zeit berichtet.