„Der Grund“, von Anne von Canal

Und wieder einmal ein Buch, an dem man dranbleiben sollte. Ich habe mehrmals unterbrochen, das hat den Genuss doch sehr geschmälert. Es ist eine sehr geschickt konstruierte Geschichte, die auf verschiedenen Zeitebenen spielt und innerhalb einer Ebene zusätzlich mit Rückblenden und Einschüben arbeitet; zudem werden häufig neue Namen ins Spiel gebracht, was mich manchmal verwirrt hat – aus oben genanntem Grund.
Die zweite Hälfte habe ich in einem Rutsch gelesen, und dann hat die Geschichte einen regelrechten Sog auf mich ausgeübt. Laurits, ein Junge aus guter Stockholmer Familie, liebt das Klavierspiel. Mithilfe der Musik gelingt es ihm, seiner etwas überspannten Mutter und vor allem dem despotischen Vater zu entfliehen. Laurits möchte unbedingt Konzertpianist werden. Doch es kommt anders, und er ergreift den Arztberuf, der ihn sehr erfüllt. Mit seiner Frau Silja findet er das große Glück, was durch die gemeinsame Tochter Liis gekrönt wird. So weit zum Inhalt, wie er auch auf dem Klappentext zu finden ist.

Das Buch beginnt mit einem (nicht so genannten) Prolog: mit dem tragischen Untergang eines Passagierdampfers (wann und wo bleibt offen). Dann springt die Geschichte zu Laurits, der sich nun Lorenzo bzw. Lawrence nennt und von seiner Tätigkeit als Pianist auf einem Kreuzfahrtschiff berichtet. Erst nach und nach wird enthüllt, auf welch verschlungenen Wegen und mit wie vielen Wendungen das Leben ihn dort hingespült hat. Mehr möchte ich von der Geschichte nicht verraten – nur so viel: Musik und Meer spielen eine tragende Rolle.
Die Lektüre lohnt sich, Anne von Canal ist ein sehr unterhaltsamer, gleichzeitig aber auch zum Nachdenken anregender, bewegender Roman gelungen. Die Sprache ist bildreich, mit musikalischem Ton. „Der nächste Donner kam fast zeitlich mit dem Blitz, und es klang, als würde ein Hochhaus einstürzen. Dann schlitzte jemand mit einem langen Messer die Wolken auf, und der Regen brach los.“
„Der Grund“ spielt mit Fragen, die wir uns alle schon einmal gestellt haben – was wäre gewesen, wenn ich seinerzeit einen anderen Weg gegangen wäre? Wie viele Neuanfänge im Leben sind möglich? Was ist ein gutes Leben?

„Zerbrechlich“, von Jodi Picoult

Jodi Picoult ist auch so eine Vielschreiberin. Ich habe fast alle Romane von ihr gelesen. „Zerbrechlich“ hat mich sehr an ihr Buch „Im Namen meiner Schwester“ erinnert, das ich seinerzeit faszinierend fand, auch aufgrund der Perspektivwechsel: Alle Personen im Umfeld der Hauptperson schildern abwechselnd ihre Sicht der Dinge. Auch in „Zerbrechlich“ arbeitet Picoult mit diesem stilistischen Element.
In der vorliegenden Geschichte geht es um das Mädchen Willow, das mit der Glasknochenkrankheit (Osteogenesis imperfecta, kurz OI) auf die Welt gekommen ist. Ständig läuft Willow Gefahr, sich Knochen zu brechen, an ein normales Leben ist nicht zu denken. Naturgemäß dreht sich im überaus schwierigen Alltag der Familie alles um dieses kranke Kind; Amelia, die gesunde ältere Schwester wird von den Eltern nahezu übersehen. Als die Idee aufkommt, dass man die Gynäkologin auf ungewollte Geburt verklagen könnte (wir bewegen uns im amerikanischen Rechtssystem!), erhofft sich die Mutter Charlotte von der Klage eine hohe finanzielle Entschädigung, mit der sie die immensen Kosten für die Krankheit ihrer Tochter besser decken könnte. Die Sache hat aber einen entscheidenden Haken, die Gynäkologin ist Charlottes beste Freundin, auch die Töchter der beiden sind eng befreundet. Ein weiteres Problem: Charlotte müsste vor Gericht lügen, sie müsste so tun, als hätte sie ihre Tochter niemals bekommen, wenn man sie in der Schwangerschaft rechtzeitig auf die Krankheit aufmerksam gemacht hätte. Harter Tobak, aber Charlotte reicht die Klage ein …
Picoult hat es echt drauf, Spannung zu erzeugen, und sie greift immer hochinteressante Themen auf. Dennoch bin ich mit diesem Buch nicht ganz glücklich. Abgesehen davon, dass es sehr amerikanisch ist, finde ich es auch etwas glatt, etwas zu konstruiert und auf Wirkung hin konzipiert. Auch ihr bevorzugter Satzbau (eingeschobenes Verb bei wörtlicher Rede) hat mich dieses Mal etwas genervt: „Weißt du Charlotte“, sagte sie sanft, „mir auch.“

„Zerbrechlich“ ist bis zum Ende hin spannend, man fragt sich nicht nur, wie das Urteil ausfallen wird, sondern auch, ob das Auseinanderbrechen der Familie noch verhindert werden kann. Wer also gerne psychologisch spannende Unterhaltung liest, ist hier richtig. Ich habe vielleicht zu viel Picoult gelesen, oder es erinnerte mich zu sehr an „Beim Leben meiner Schwester“. Bei mir bleibt ein leicht schales Gefühl zurück.

„Die Reisen des Mr. Leary“, von Anne Tyler

Die wunderbare Anne Tyler hat wieder ein Buch geschrieben: „Der leuchtend blaue Faden.“ Ich habe die Besprechung in der FAZ gelesen und es auf meine „Lese-Liste“ gesetzt. Aber zunächst habe ich mir endlich einmal „Die Reisen des Mr. Leary“ von Tyler vorgenommen, neben „Atemübungen“ (dafür hat sie den Pulitzerpreis bekommen) ihr berühmtestes Buch, das auch erfolgreich verfilmt wurde. Und ich habe, wie immer, jede Zeile genossen.

Es ist eine seltsame Geschichte mit Anne Tyler und mir. Schon vor vielen Jahren hatte mir ein Kollege „Die Reisen des Mr. Leary“ empfohlen, ich bin aber nicht drauf angesprungen. Die „Atemübungen“ hatte ich damals angelesen – war aber nicht reingekommen, ich war wohl noch nicht reif dafür … Jahre später, auf der Suche nach einem Autor, der mehr als ein schönes Buch geschrieben hat, hat mir eine Kollegin Anne Tyler empfohlen, und dieses Mal ist der Funke übergesprungen – inzwischen kenne ich die meisten ihrer Titel. Und ich liebe sie alle.
„Die Reisen des Mr. Leary“ ist in all seinen Ausprägungen ein gutes Beispiel für den unverwechselbaren Tyler-Stil. Witzig, traurig, herzerwärmend, einfach grandios. Tyler ist unglaublich genau im Beschreiben von Szenen und Personen, sie ist total nah dran an ihren Figuren und man spürt, wie sehr sie sie mag. Überaus kunstvoll entblättert sie beiläufig auf den ersten Seiten das Schicksal von Learys Sohn. Ihre Protagonisten sind meist etwas schräg; im vorliegenden Buch mag man erst gar nicht glauben, dass Muriel („eine magere junge Frau in einer rüschenbesetzten Folklorebluse. Sie hatte schauderhaft krauses, schwarzes Haar …“) die Frau sein wird, die in Mr. Learys Leben (und in dem seines Hundes Edward) eine große Rolle spielen wird. Alleine die Szenen mit Edward, dem ganz und gar Lernunwilligen Welsh Corgie mit „kurzen, drallen Beinen, wie die Keulen einer bratfertig dressierten Long-Island-Jungente“ sind zum totlachen. „Oben auf der Kellertreppe klagte Edward sein Leid. Er hatte zwar Hunger, aber nicht den Mut, allein hinunterzulaufen. Als er Macon erblickte, legte er sich flach, ließ die Schnauze über die oberste Stufe hervorlugen und setzte eine hoffnungsvolle Miene auf.“
Um was geht es? Nichts Weltbewegendes – Hund und Herrchen sind nach der Trennung von Sarah, Learys Ehefrau, etwas neben der Spur. Muriel, die auf den ersten Blick eher skurrile Hundetrainerin, soll es richten, bei Edward! Sie nimmt sich nicht nur des Corgies an …
Liebe Leute, dies ist zwar die Besprechung eines Buches, aber hauptsächlich soll es ein Lobgesang auf eine Autorin sein. Lesen!

Norderney oder Spiekeroog?

Jahrelang war Spiekeroog meine erste Wahl unter allen ostfriesischen Inseln, meine Herzens-Insel. Urlaub auf Norderney, deren städtische Silhouette man von den Nachbarinseln aus gut erkennen kann, kam für mich überhaupt nicht in Frage. Nun war ich doch erstmals dort, und ich habe so viel Schönes entdeckt, dass ich ins Grübeln gekommen bin.

Im Ortskern von Spiekeroog
Im Ortskern von Spiekeroog

Gegensätzlicher können ostfriesische Inseln nicht sein – die eine grün, schnuckelig, ruhig, träumt immer noch den Spiekerooger Dornröschen-Schlaf; die andere, Norderney, bietet Nordsee für Anfänger und Partygänger, aber auch für Kenner und Kurgäste. Auf Spiekeroog steht die Natur im Vordergrund; unberührter, endlos breiter Sandstrand, hohe Dünen, hübsche Häuschen und unglaublich viel Grün erwarten den Gast. Bausünden sucht man hier vergeblich, auf Norderney gibt es reichlich davon. Man mag dort über die kilometerlange, asphaltierte Promenade auf der städtisch angehauchten Insel vielleicht zu Beginn die Nase rümpfen. Aber dann weiß man es doch zu schätzen: Eine Bank nach der anderen lädt zum Ausruhen und Schauen ein, Radfahrer gondeln entspannt am Meer entlang und entlang des Strandes gibt es eine Reihe schönster Einkehrmöglichkeiten (allen voran die wunderbare Milchbar nahe der „Stadt“), mit denen Norderney bei mir punktet.

Dem Besucher wird viel geboten – das macht die Insel aber auch attraktiv für lärmende Kegelklubs und Party-Suchende. Natürlich finden sich auch hier unberührter Strand und Dünen, man muss nur die vorgezeichneten Wege verlassen. So wird man zum Beispiel nach einem etwas längeren Fußmarsch am Strand entlang mit der „Weißen Düne“ belohnt, einem herrlichen Ausflugsziel. Genau das fehlt mir auf Spiekeroog: die schönen Cafés am Strand, in denen man stundenlang sitzen und aufs Meer gucken kann. Nette Einkehrmöglichkeiten gibt es nur im Inneren der Insel, im Dorfkern. Aber dem grünen Spiekeroog bleibt ein wichtiger Trumpf: Es erwärmt das Herz durch seine Unberührtheit.

Ich finde es toll, dass es beide Inseln gibt und man auswählen kann, je nach Stimmung. Für mich heißt es also „und“, nicht „oder“. Spiekeroog, ich bleibe dir treu – und Norderney, ich komme wieder!

Die Milchbar auf Norderney an einem Freitag Nachmittag
Die Milchbar auf Norderney an einem Freitag Nachmittag

Norderney oder Spiekeroog?

Jahrelang war Spiekeroog meine erste Wahl unter allen ostfriesischen Inseln, meine Herzens-Insel. Urlaub auf Norderney, deren städtische Silhouette man von den Nachbarinseln aus gut erkennen kann, kam für mich überhaupt nicht in Frage. Nun war ich doch erstmals dort, und ich habe so viel Schönes entdeckt, dass ich ins Grübeln gekommen bin. Ich werde berichten …

„Lo und Lu, Roman eines Vaters“, von Hanns-Josef Ortheil

Ein gefeierter Schriftsteller bleibt daheim, um sich um seine beiden kleinen Kinder Lo und Lu zu kümmern, während seine Frau arbeiten geht. Ein höchst vergnügliches, fabelhaftes und selbstironisches Buch ist das Ergebnis: „(…) natürlich bin ich kein Hausmann, der kocht, putzt, wäscht, sondern ein Schriftsteller der durch seine Arbeit ans Haus gebunden ist (…)“. Denkste! Ortheil beschreibt in seiner wunderbaren Sprache, wie er sich langsam von dieser Vorstellung verabschiedet. Wie er Schritt für Schritt begreift, dass seine alten Gewohnheiten sich nicht aufrecht halten lassen, und dass gelegentliche kinderfreie Momente nicht ausreichen, um seiner schriftstellerischen Tätigkeit nachzugehen. Ja, dass sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt wird durch die zweijährige Lo und den neugeborenen Lu. Und er beginnt, Tagebuch zu schreiben, „das ist so etwas wie die Schwundstufe von Arbeit.“

Ortheil lässt sich voll auf dieses neue Leben ein und schildert voller Wärme, aber auch mit leisem Spott über sich selbst, wie er die Tage mit den Kindern verbringt und die Welt mit ihren Augen ganz neu erfasst. Und vieles erstmals erlebt: Klamotteneinkauf fürs Töchterchen mit der bitteren Erkenntnis, dass man in den Augen attraktiver Verkäuferinnen nun eher Papa als Mann ist, den ersten generalstabsmäßig geplanten und dennoch nicht komplikationslosen Kindergeburtstag, den Rombesuch mit den lieben Kleinen. Ein Kapitel gilt einem Tag in Köln mit Besuch des Kölner Doms und des Schokoladenmuseums. Zwischendurch verschafft sich der Papa durch eine eilig herbeigerufene Verwandte etwas Freiraum, genehmigt sich ein paar Kölsch und verfällt ins Philosophieren, alleine und mit dem Köbes. (Für Nicht-Rheinländer: Köbes = Kellner in Brauhäusern in Köln, Düsseldorf, Bonn und Krefeld).

„Wer glaubt, dass man sich beim Bauen, Spielen und Fahren entspannen kann, kennt Bauen, Spielen und Fahren nicht richtig.“ Alle Eltern von kleinen Kindern werden wissen, wovon der Mann redet. Und ihre Freude daran haben. Wer glaubt, nach der Lektüre umfassend auf die Tücken des Familien-Alltags vorbereitet zu sein, den muss ich aber enttäuschen. Viele profane Seiten des Lebens mit Kleinkindern werden verschwiegen bzw. idealisiert. Aber es geht ja um die „Weite des Lebens“, und die wird laut Ortheil „ausschließlich markiert von der Freude und dem alltäglichen Glück.“ Ein schönes Buch!

„Wer die Nachtigall stört“, von Harper Lee

Die Verfilmung des Romans habe ich als ausgesprochen beeindruckend in Erinnerung, und die von mir sehr verehrte Elizabeth George nennt es ihr Lieblingsbuch, perfekt in „Perspektive und Erzählerstimme“. Grund genug, diesen in vierzig Sprachen übersetzten Klassiker endlich einmal zu lesen!
Das Thema ist Rassenhass im Alabama der 1930er Jahre – aber es geht um viel mehr als das – um Vorurteile im weitesten Sinne, um Mitläufer, kritisches Denken, Toleranz und menschliche Größe. Was das Buch so besonders macht: Es ist aus Sicht von Scout geschrieben. Sie ist die kleine Tochter des Anwalts Atticus Finch, der einen wegen Vergewaltigung angeklagten Schwarzen verteidigt. Unbefangen und unvoreingenommen kommentiert Scout die Ereignisse, und stellt Fragen, wie es eben nur ein Kind tun kann.

Zu Beginn des Romans ist Scout sechs Jahre alt, ihr Bruder Jem ist zehn. Wir erleben die überwiegend unbeschwerte Kindheit der beiden im kleinen Dörfchen Maycomb, in dem jeder jeden kennt (am Telefon muss man nicht seinen Namen nennen, um vom Gesprächspartner identifiziert zu werden), und in dem es menschliche Charaktere aller Schattierungen gibt: Den bösen Mr. Ewell, den guten, seine Kinder Verständnis und Toleranz lehrenden Anwalt Finch, viele schillernde Nebenfiguren und nicht zuletzt den sagenumwobenen Boo Radley, den nie jemand zu Gesicht bekommt, und vor dem die Kinder eine Heidenangst haben. Und der sehr spät im Buch doch noch seinen Auftritt bekommt. Mehr will ich von der Geschichte nicht verraten.

In manche Bücher kann man jederzeit wieder einsteigen, wenn man sie für ein paar Tage weggelegt hat. Das gelang mir bei dieser Geschichte nicht. Nur wenn ich eine Weile am Stück gelesen habe, bin ich wieder in diese besondere, sich langsam aufheizende Welt eingetaucht. Also besser dran bleiben! Es ist ein Gesamtkunstwerk, das man nur so richtig würdigen kann. Und aktuell wie eh und je. In Deutschland ist gerade ein Kommunalpolitiker zurückgetreten, weil er seine Familie vor rechtsextremer Hetze schützen wollte. Und das Thema Rassismus gibt es nach wie vor in USA, wenn auch subtiler als zur Zeit des Romans.

„Der Junge muss an die frische Luft“, von Hape Kerkeling

Bis etwas Seite Hundert ist das Buch eine durchschnittliche Biografie – nicht besonders aufregend – und wäre der Autor nicht so berühmt und hätte ich nicht vorab so viel über die Geschichte gelesen, ich hätte es womöglich weggelegt. Es war sicherlich ein Fehler, dieses Buch direkt nach dem Distelfink mit der überaus kunstvollen Schreibe von Donna Tartt zu lesen. Kerkelings Sprache ist schlicht, es gibt so gut wie kein Substantiv ohne Adjektiv („der grauhaarige, griesgrämige Wärter mit dem dicken Schlüsselbund in der sonnengegerbten Hand“), das kann auf Dauer ganz schön nerven.

Aber die zweite Hälfte entschädigt für das Durchhalten. Es ist faszinierend (und über weite Strecken auch ergreifend), wie die Jugendjahre und die Menschen, die ihn begleiten, Kerkeling prägen. Dabei geht es nicht nur um Eltern, Großeltern und die anderen Blutsverwandten, die teilweise notgedrungen in das Leben des Jungen eingreifen. Auch der weitreichende Einfluss einer Lehrerin wird deutlich; die wichtige Rolle, die die Familie seines besten Freundes einnimmt, wird erwähnt, wenn auch nicht näher beschrieben. Alle diese Verdienste um seine Person würdigt Kerkeling mit großer Dankbarkeit und viel Respekt. Mir hat es einmal mehr klargemacht, wie sehr manche Menschen unser Leben beeinflussen.

Bei Kerkeling sind es die Frauen, die seinen Lebensweg auf die eine oder andere Weise entscheidend begleiten, sei es mit unerschütterlicher Stärke und großem Lebensmut, sei es  mit genau dem Fehlen dieser Kraft und dem Schrecklichen, was daraus resultiert. (Mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten, es mag den einen oder anderen geben, der den Inhalt nicht so genau kennt). Die Männer bleiben blass im Hintergrund, die beiden Omas kommen ganz groß raus.

Mit „Ich bin dann mal weg“ hatte Kerkeling seinerzeit einen Nerv unserer Gesellschaft getroffen, indem er die Sehnsucht nach einem (zeitweisen) Ausstieg, den Wunsch nach Einssein mit der Natur und dem Ausloten der persönlichen Grenzen thematisierte. Im vorliegenden Buch lernen wir, dass er schon als Junge einmal die überaus wohltuende Wirkung eines Wanderurlaubs erfahren hat; insgesamt zeigt die Geschichte, wie unglaublich vorgezeichnet vor allem seine spätere berufliche Laufbahn schon in frühen Jahren war, wie sie im Grunde genommen zwangsläufig aus dem Erlebten resultierte. Das ist das eigentlich Interessante an diesem Buch, und dafür lohnt es sich auch, es zu lesen.

„Der Distelfink“, von Donna Tartt

Ein „Kunstraubkrimi“ (Buchreport) ist „Der Distelfink“ nur zu einem sehr geringen Teil. Auch wenn das unter dramatischen Umständen entwendete, titelgebende Bild die Klammer um die ganze Geschichte bildet, so ist das Buch doch viel viel mehr als ein Krimi. Am ehesten würde ich es als Entwicklungsroman bezeichnen.

Der dreizehnjährige Theodore besucht mit seiner alleinerziehenden Mutter ein Museum, als dort eine Bombe hochgeht, bei der viele Menschen, darunter auch seine Mutter, ums Leben kommen. Im allgemeinen Durcheinander nach der Detonation entwendet Theo das kostbare Gemälde „Der Distelfink“, ohne recht zu wissen, was er da tut – und auf was er sich damit einlässt.

Zunächst musste ich mich an die ausufernden, differenzierten Beschreibungen gewöhnen, egal, ob es sich um Milieu, Örtlichkeiten, Dialoge oder Personen handelt, alles wird in epischer Breite abgehandelt. Andererseits lässt Tartt lange meine Frage unbeantwortet, wie viele Personen die Familie seines Schulfreunds umfasst, die Theo aufnimmt, nachdem es sonst niemanden gibt, der für ihn sorgen kann, oder vielmehr will.

Vielleicht lässt Tartt uns auch über die genaue Geschwisterzahl bewusst erst einmal im unklaren, denn nichts scheint bei dieser Autorin unbeabsichtigt, der ganze Roman ist kunstvoll konstruiert und komponiert. Stets im richtigen Moment gibt es Taktwechsel – gerade hatte man genug von den immer dramatischeren Zuspitzungen oder den unzähligen Variationen ähnlicher Sachverhalte – da wechselt Tartt Schauplatz oder Tempo, gibt der Geschichte wieder eine positive Wendung, kehrt zurück zu einer liebgewonnen Figur, und wir atmen auf.

Nachdem ich mich an die ausführlichen Beschreibungen gewöhnt hatte (Tartt macht es einem mit ihrer wohlgesetzten, eleganten Sprache auch leicht ), und nach der Schlüsselszene im Museum, nach der Theos Leben rasant Fahrt aufnimmt, (und das wird auch bis zum Ende so bleiben), wollte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Die Abhängigkeit des Teenagers von Fürsorge und vor allem Liebe – beides hat er bei seiner Mutter reichlich bekommen – und seine Traumatisierung durch die Explosion beschreibt Tartt mit unglaublicher Einfühlsamkeit und Eindringlichkeit. Theos Odyssee durchs Leben und das Schicksal des verschleppten Bildes sind kunstvoll verwoben mit philosophischen Betrachtungen über das Leben und den Tod, über Zufälle, Schicksal, Vergänglichkeit, Freundschaft und Liebe.

Das Buch macht Lust auf Antiquitäten und auf eine intensive Auseinandersetzung mit Kunst, die weit über einfaches Betrachten hinausgeht. Die Personen sind allesamt sehr lebendig, besonders Mrs. Barbour (die Mutter seines Schulfreundes) und Boris (sein späterer Freund) wachsen einem ans Herz. Nicht zu vergessen Hobie, der väterliche Freund, und seine große Liebe Pippa (das Mädchen war zum Zeitpunkt der Explosion ebenfalls im Museum).

Fazit: Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen, ich habe die mehr als tausend Seiten wirklich gerne gelesen, ich kann die positiven Rezensionen nachvollziehen. Dennoch, das Buch schafft es nicht in meine Liste der Lieblingsbücher, es gibt Bücher, die mich mehr berühren.

 

„Eisblaue See, endloser Himmel“, von Morgan Callan Rogers

Eine ursprünglich nicht auf Fortsetzung angelegte Geschichte weiterspinnen und einen zweiten Band schreiben, kann das gut gehen? Das war die Frage, die ich mir gestellt habe, als ich dieses Buch gelesen habe. Von dem ersten Roman („Rubinrotes Herz, eisblaue See“ – die Titelähnlichkeit ist natürlich gewollt, macht einen aber etwas kirre) war ich begeistert, ihr erinnert euch?
Also, Florines Geschichte geht weiter: Aus dem elfjährigen Mädchen, das seine Mutter verlor, ist inzwischen eine junge Frau geworden, die mit dem Mann ihrer Träume verheiratet ist und in kurzer Folge zwei Kinder bekommt. Das mitunter recht turbulente Familienleben (wie das halt so ist mit zwei kleinen Kindern) wird ausführlich beschrieben.

Ein wenig Fahrt nimmt die Geschichte auf, als Briefe auftauchen, die ein neues Licht auf das mysteriöse Verschwinden von Florines Mutter vor knapp zehn Jahren werfen.
Aber die Lösung des Falls trägt für mich nicht über so viele (456!) Seiten. Natürlich geht es auch um anderes: Die Autorin beschreibt sehr anschaulich und mit viel Herz die Probleme, mit denen das junge Ehepaar zu kämpfen hat – aber für mich sprang der Funke dieses Mal nicht über. Es fehlen die unverwechselbaren Charaktere des ersten Bands, und auch die Bildsprache begeistert mich nicht mehr so sehr. Der Roman ist nett, er lässt sich einfach so weg lesen und wenn man „Rubinrotes Herz, eisblaue See“ gelesen hat, mag es Spaß machen, ein paar bekannte Gesichter wieder zu treffen und zu erfahren, was es mit dem Verschwinden von Carlie (Florines Mutter) auf sich hatte – aber meines Erachtens hätte die Autorin besser daran getan, sich nicht auf eine Fortsetzung einzulassen. Ein wenig hat nun auch der ursprüngliche Roman, der erste Band, an Glanz für mich verloren. Also: Nicht unbedingt empfehlenswert!

Jetzt lese ich „Der Distelfink“, von Donna Tartt. Gut tausend dicht beschriebene Seiten, es wird etwas dauern, bis ich mich wieder melde …