„Alles worauf wir hofften“, von Louisa Young

Äußerst eindringlich beschreibt der Roman (der Originaltitel The Heroes’ Welcome ist viiiel besser!) die äußeren und inneren Verletzungen von Kriegsheimkehrern. Und was ihre Rückkehr von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs für ihre Umwelt bedeutet, die sich völlig hilflos mit völlig veränderten Männern konfrontiert sieht. Das kollektive Aufatmen – der Krieg ist vorüber, lasst uns nach vorne schauen – wird durch die beiden Kriegsveteranen (gerade mal in ihren Dreißigern) empfindlich gestört.

„Sie müssen nur einen Roman über den Ersten Weltkrieg lesen, nämlich diesen,“ rezensiert The Times. Und in der Tat, die Geschichte der beiden Paare hat mich sehr in den Bann gezogen, bewegt und diese (oft vernachlässigte) Seite des Kriegs intensiv  betrachten lassen. Da sind Nadine und Riley, dessen Gesicht mühsam wieder zusammengeflickt wurde und der kaum sprechen und essen kann und das Mitleid, das ihm allerorten entgegenschlägt, nicht erträgt. Und die (einst) wunderschöne Julia und Peter, der völlig verbittert ist und den seine Erlebnisse auf dem Schlachtfeld bis in seine Träume begleiten – wenn sie ihn überhaupt schlafen lassen. Und der es kaum schafft, mit seiner Frau zu kommunizieren, ohne verletzend zu sein:

„Er blickte zu ihr (…) und sah, dass sie, wie nicht anders zu erwarten, diese überraschend freundlichen Worte ernst nahm und sie mit gewaltiger Bedeutung auflud. Oh Gott. Sie brach in Tränen aus. Sag etwas. Aber nicht ’Verpiss dich’. Sag das nicht.“

Werden die beiden Männer es schaffen, wieder Fuß zu fassen? Werden die Beziehungen zu ihren Frauen diesen immensen Spannungen standhalten? Wie kann man überhaupt weiterleben im Angesicht all der grauenvollen Erinnerungen und des unvorstellbaren Leids? Wie gehen die Frauen mit ihren immer wieder aufs Neue enttäuschten Hoffnungen um? Sehr lesenswert!

„Zeiten des Aufbruchs“, von Carmen Korn

Zurück in Hamburg – inzwischen schreiben wir das Jahr 1949. Die Geschichte der vier um 1900 geborenen Frauen geht weiter. Der Zweite Weltkrieg ist vorüber, Hamburg ist zerstört. Käthe wird noch vermisst, ebenso wie ihr Mann Rudi. Henny, Ida und Lina versuchen sich ein neues Leben aufzubauen. Das deutsche Wirtschaftswunder kommt langsam ins Rollen. Klaus, Sohn von Henny, bekommt eine eigene Rundfunksendung und da swingt und klingt es ganz wunderbar; mit etwas Wehmut erinnerte ich mich an all die tollen Songs jener Zeit. Und an klangvolle Namen wie Bully Buhlan, Lonny Kellner, Ella Fitzgerald …

Auch beim 2. Band der Trilogie war ich ganz schnell wieder in Hamburg dabei und habe gerne gelesen, wie unterschiedlich sich die Leben der Freundinnen weiter entwickeln. Den Rahmen bilden die Ereignisse jener Jahre: Mauerbau, Kubakrise, Studenten-unruhen. Diese Geschehnisse werden aber nur erwähnt, nicht vertieft.

Wer sich an jene Zeit gut erinnern kann, also ein eher älterer Jahrgang ist ;-), wird Freude an diesem Buch haben. Im Sommer 2018 erscheint der letzte Band der Trilogie, den werde ich sicher auch noch lesen. Und vorher fahre ich für ein paar Tage nach Hamburg, denn das Buch hat in mir mal wieder (die immer latent vorhandene) Sehnsucht nach der Hansestadt geweckt!

Hier geht’s zur Besprechung des 1. Teils.

 

„Das Glück der kleinen Augenblicke“, von Thomas Montasser

„Das Glück, dachte Mr. Swift, es ist eine flüchtige Sache, wenn man es nicht in sich trägt.“  Ein sehr wahrer Satz, einer von vielen schönen Sätzen in einem durch und durch mit Liebe verfassten Buch. Das gilt nicht nur für den Text, der eine wunderbare Geschichte erzählt, sondern auch für die Ausstattung des Buches. Auf dem farbigen Vorsatzpapier ist die Tastatur einer alten Schreibmaschine abgebildet und die Schriftfarbe im Buch wechselt, je nach erzählerischer Perspektive. Und natürlich gibt es ein Lesebändchen!

Marietta, einer jungen italienischen Lektorin, fällt vor der London Library ein herrenloses Manuskript in die Hände, das sie außerordentlich fesselt. Doch vom Autor fehlt jede Spur und vollendet ist der Text auch nicht. Das Verlegerehepaar des kleinen Londoner Literaturverlags, in dem Marietta angestellt ist, ist ebenfalls völlig begeistert und macht der Lektorin Druck, den Autor zu finden oder das Manuskript selber zu vollenden. Langsam dämmert Marietta, dass der Pechvogel, der das Manuskript verloren hat, der vom Pech verfolgte Protagonist der Geschichte ist. Anhand von Hinweisen im Text macht sie sich auf die Suche …

Das ist so herzerwärmend und mit einer guten Prise Humor und viel Lebensklugheit erzählt, dass es eine wahre Freude ist. Wer nicht nur gerne liest, sondern ein Herz für die Welt der (gedruckten) Bücher hat, der ist hier richtig!

 

 

 

 

„Die Geschichte eines neuen Namens“, von Elena Ferrante

Höchst unterhaltsam, hoch spannend und gleichzeitig anspruchsvolle Literatur: Einfach fantastisch, die vierbändige Neapolitanische Saga um zwei italienische Frauen. Etwas zögernd hatte ich mir den 2. Band vorgenommen. Bin ich vielleicht beim 1. Buch nur dem wahnsinnigen Hype aufgesessen? Nein, bin ich nicht. Wird die Autorin die Spannung halten können? Sie kann. Passiert genug, um eine Fortsetzung zu rechtfertigen? Es passiert genug. Geradezu atemlos habe ich die Geschichte von Lenù und Lila weiterverfolgt. Lila ist inzwischen verheiratet und lebt weiter im Rione – ihr Leben ist mindestens so bewegt wie das von Lenù, die im 2. Band in Pisa zu studieren beginnt. Dort trifft sie die bittere Erkenntnis, dass alle ihre Lernanstrengungen niemals ausreichen werden, um ihre (in jeglicher Hinsicht) ärmliche Herkunft komplett hinter sich zu lassen. Sie spürt, wie anders ihre Studienkollegen aufgewachsen sind, wie sie Wissen von klein auf aufgesogen haben, sich geübt haben in Tischgesprächen mit ihren Eltern, ihre Bildung systematisch immer weiter ausgebaut haben. „Erfolg allein genügte nicht, man brauchte noch etwas anderes, und das hatte ich nicht, ich konnte es auch nicht lernen.“

Sehr eindringlich und mit wunderbaren Worten beschreibt die Autorin Lenùs fortwährenden Kampf mit Minderwertigkeitsgefühlen und Ängsten. Wie sie überhaupt sprachlich großartig, dicht und mitreißend schreibt, egal ob es um die Gefühle der beiden Protagonistinnen geht oder um die Verhältnisse im Italien der 50er Jahre. Und ohne zu viel vom Inhalt zu verraten: Lila, die durch ihre Heirat den ärmlichen Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen ist, zunächst zu entkommen scheint, hat es auch nicht leicht …

Etwas schwer tue ich mich mit der Behauptung, das Buch sei „Das beste Portrait einer Frauenfreundschaft in der modernen Literatur.“ (The New York Times). Der Umgang der beiden Frauen miteinander sprengt für mich so manches Mal die Grenzen einer Freundschaft. Aber das mag auch den rauen Sitten im Neapel der 50iger Jahre und speziell im Viertel Rione geschuldet sein. Wir sind heutzutage vielleicht einfach „weichgespülter“? Immerhin scheinen die beiden Frauen durch ein unsichtbares Band aneinander gebunden, fast gekettet. Aber diese Frage – sind es wirklich Freundinnen, und ist das Thema der Saga diese Frauenfreundschaft – fände ich spannend zu diskutieren und ich würde mich freuen, wenn die eine oder der andere hierzu mal ein Feedback gibt!

 

 

„Sungs Laden“, von Karin Kalisa

Ach ja, auch so könnte die Welt sein: Voller Verständnis für andere Kulturen, voller Empathie für die Mitmenschen, voller Elan für verrückte Aktionen, die das Leben ein kleines bisschen bunter und lebenswerter machen. Die Geschichte spielt in Berlin, im Prenzlauer Berg und beschreibt, wie sich waschechte Berliner und eingewanderte Vietnamesen nach und nach näherkommen. Es ist ein Märchen mit vielen Passagen, die für gute Laune sorgen, in der Geschichte ebenso wie beim Leser: „Über sein bärtiges Gesicht zog sich ein breites Grinsen, das mehrere Tage nicht daraus weichen wollte. Selbst nachts nicht“. (…) Seine Frau machte eine Skizze davon und „zeigte sie später jedem, der nicht glauben wollte, dass sie einen Mann an ihrer Seite hatte, dessen diebischer Spaß an einer schrägen Idee sich so tief in seine Mundwinkel und Lachfältchen gemeißelt hatte, dass sie selbst den Delta-Wellen des Tiefschlafes standhielten.“

So beginnt es: Der Direktor der Grundschule im Prenzlauer Berg ruft auf Druck des Schulamts eine „weltoffene Woche“ aus und fordert alle Schüler auf, etwas aus ihrer „Hintergrundkultur“ in die Schule mitzubringen. „Alles, nur nichts zu essen“, lautet die Anweisung, die den kleinen Minh und seinen Vater Sung tüchtig ins Schwitzen bringt. Doch die Oma weiß Rat und schleppt am nächsten Tag mit ihrem Enkel eine große hölzerne Puppe mit in die Schule. Das sorgt für tüchtig Aufsehen und setzt die Dinge in Gang …

So manches Ressentiment gegenüber Fremden wird da auf leichte Art und Weise offengelegt. Wunderbar z.B. die Beschreibung, wie der Opa seinen Enkel dazu anhält, die Rechtschreibfehler auf den Preisschildern des vietnamesischen Gemüsehändlers zu suchen – und dann erkennt, wie diese Fehler zustande kommen – und sehr nachdenklich wird.

 

„Töchter einer neuen Zeit“, von Carmen Korn

Ein dicker Schmöker. Die Geschichte von vier Frauen, die um die Jahrhundertwende geboren sind und zwei Weltkriege erleben. Obwohl das Buch 550 Seiten hat, bleibt es bei der Innenschau der Personen seltsam an der Oberfläche. Keine der handelnden Personen kommt einem wirklich nahe. Man schaut von außen auf die Figuren und ihr bewegtes Leben. Die Nebenfiguren stehen einem fast plastischer vor Augen als die vier Frauen. Die bodenständigen Eltern von Käthe – die patente Mutter mit ihren Kochkünsten und der Vater mit seinen lakonischen Sprüchen – sind echte Hamburger Originale und mir als solche ans Herz gewachsen. Ebenso die beiden sehr unterschiedlichen Ärzte, die die Wege der Frauen immer wieder kreuzen. Insgesamt sind es sehr viele handelnde Personen und die Personenübersicht in der Vorderklappe hätte noch viel ausführlicher sein können – zu verwirrend sind die vielen Namen.

In der hinteren Klappe ist ein Stadtplan, der Hamburg 1919 zeigt, bzw. die Viertel Uhlenhorst, Barmbeck, Hohenfelde und Eilbeck, in denen der Roman überwiegend spielt. Das ist eine gute Idee, macht es doch das Geschehen plastischer. Die politischen Ereignisse der dunklen Zeit rund um die beiden Weltkriege bilden den Hintergrund, vor dem sich alles abspielt.

Es fehlt insgesamt etwas an Tiefe – dennoch, nach und nach schließt man alle Figuren ins Herz und will wissen, wie es mit ihrem Leben weitergeht. Es gibt noch einen zweiten und einen dritten Band. Die Aufbaujahre nach dem Zweiten Weltkrieg bieten ja genug Stoff für interessante Geschichten. Ich werde also demnächst „Zeiten des Aufbruchs“ lesen.

Bücher über die Zeiten, in denen unsere Mütter sich durchs Leben schlagen mussten, finde ich generell interessant. Das scheint vielen anderen auch so zu gehen, denn vorne auf dem Buch klebt ein Sticker BestBestseller – das finde ich nicht nur affig, sondern auch inhaltlich nicht gerechtfertigt. „Töchter einer neuen Zeit“ ist nette Unterhaltungsliteratur, die sich leicht weg liest.

 

 

„Mittlere Reife“, von Isabel Varell

Jeder scheint sie zu kennen: Isabel Varell – vielleicht wegen ihrer Ehe mit Drafi Deutscher? Oder als Dschungelcamp-Teilnehmerin? Ich kannte sie bislang nicht. Bei einer musikalischen Lesung auf Norderney habe ich sie erstmals erlebt und das hat mich neugierig gemacht auf ihr Buch. Und auf ihr Leben. Ihr bester Freund Hape Kerkeling hat sie ermutigt, diese Biografie zu schreiben. Varell hat wirklich viel erlebt, nicht nur die erwähnte Zeit mit dem Enfant terrible Drafi Deutscher. Sie hat sich, nach schwieriger Kindheit, durch viele Höhen und Tiefen gekämpft und ist doch sehr normal geblieben, sehr authentisch. Neun Marathons ist sie gelaufen, als ehrenamtliche Sterbebegleiterin hat sie gearbeitet, ein Jahr lang die Hauptdarstellerin in der Telenovela „Rote Rosen“ gespielt, beim Dschungelcamp mitgemacht.

Über Drafi Deutscher ist allgemein bekannt, dass er schwierig war, unberechenbar, Alkohol und Drogen nicht widerstehen konnte. Aber Varell erzählt sehr nachvollziehbar, wie sich ihr Bauch langsam über den Kopf hinweggesetzt hat und sie sich in diesen Mann, der auch so viele gute Seiten hatte, verliebt hat. Wie glücklich sie eine Zeitlang waren. Aber auch, wie die Liebe unter den Belastungen und Problemen langsam schwindet, einer lähmenden Hilflosigkeit weicht und nur noch Hündin Nora „schwanzwedelnder Bindestrich“ zwischen den beiden ist. Bis Varell die Trennung schafft und ganz von vorn beginnen muss.

Nachdem ich Frau Varell als sehr natürlich und sympathisch auf der Bühne erlebt habe, rundete sich auf diese Weise das Bild von ihr: Sie ist ein Mensch mit einer ganz starken Bereitschaft, immer das Gute im Menschen zu sehen und dem Leben positiv zu begegnen; sie ist quirlig und lebensbejahend, manchmal etwas blauäugig.

Das Buch ist nett zu lesen und ist durchaus kurzweilig. Ich habe mal wieder festgestellt, wie unterschiedlich Lesen sein kann, welch unterschiedliche Gedanken und Gefühle Bücher in einem auslösen. Sie unterhalten „nur“, sie bewegen und berühren, sie animieren, provozieren und motivieren – und noch so viel mehr. Was machen Bücher mit uns? Dazu demnächst mal mehr!

Der Stift und das Papier, von Hanns-Josef Ortheil

„Wer sich für die Kunst des Schreibens interessiert, kommt an diesem wunderbaren Buch nicht vorbei.“ Dieses Zitat ist nicht von mir, könnte es aber sein 😉 Aber es gibt noch mehr Gründe, warum dies ein absolut lesenswertes Buch ist. Ortheil (einer der bedeutendsten deutschen Gegenwartsautoren) schreibt über die schwierigen und zugleich faszinierenden Anfänge seines Schreibens. Da er im Schulalter noch nicht gesprochen hat und zum Versager zu werden drohte, hat sein Vater sich ein kreatives Lernprogramm für ihn ausgedacht und ihn in einer Art Schreibschule selbst unterrichtet.

Ortheil versetzt sich zurück in diese Zeit und erzählt von Aha-Erlebnissen, von ersten Erfolgen und der sich langsam, aber stetig entwickelnden Passion. Er beschreibt die liebevollen und ungewöhnlichen Lehrmethoden des Vaters (später auch die der Mutter), schildert die Bedeutung der von ihm täglich verfassten Chroniken (die er bis heute beibehalten hat!) und entdeckt mit dem Leser gemeinsam die Welt der Sprache, zum Beispiel die Vielfalt der Dialoge – so gibt es neben „Allerweltsdialogen“ auch „Knisterdialoge“ – ein Ausdruck, der mir besonders gut gefällt.

Schreibend sich die Welt zueigen machen – man muss sich ja gar nicht für die Kunst des Schreibens interessieren, um die Wucht dieses faszinierenden Prozesses zu erfassen – es betrifft uns alle und unseren Weg ins Leben. Hier ist dieser Weg auf eine wunderbare Art und Weise beschrieben. Ich ziehe den Hut vor Ortheils Eltern, die ihm diese „Reise“ mit so viel Liebe, Engagement und Kreativität ermöglicht haben.

Wenn man Ortheil mag und wenn man seine Biografie kennt – die Eltern hatten vier seiner älteren Brüder verloren, darüber verstummte die Mutter und damit auch er als einzig verbliebener Sohn – dann geht diese Geschichte einem wirklich unter die Haut. Bei mir hat das Buch bewirkt, dass ich wieder mit einem großformatigen, geschriebenen, bemalten und beklebten Tageskalender (einer Chronik) begonnen habe. Die Tage werden dann „bewusster erlebt“ und jeder Tag wird zu einem „unverwechselbaren und einzigartigen Erlebnis“. Er weiß, wie’s geht, der Herr Ortheil!

 

 

„Warten auf Bojangles“, von Olivier Bourdeaut

Was für ein Kontrastprogramm zum zuletzt hier vorgestellten Buch „Schlafen werden wir später“! 158 Seiten gegenüber 683 Seiten. Kurz, knapp, irreal das eine – langatmig, ausschmückend, realistisch das andere. Zermürbender Alltag gegen Lebensfreude pur. Voller Phantasie und Poesie beide. Bei einem ersten Lektüre-Versuch von „Bojangles“ vor ein paar Monaten hatte ich aufgegeben, ich hatte die Geschichte seinerzeit als zu skurril und abgedreht empfunden. Und jetzt?

Die Geschichte ist nicht nur besonders phantasievoll, sie ist verrückt, voller Lebenslust, voll überschäumender Begeisterung, unbändiger Trauer und  feinem Humor. Erzählt wird, mal aus Sicht des Vaters, mal aus Sicht des Sohnes, über die Ehefrau und Mutter (der der Vater ständig neue Namen gibt). Sie ist krank, das wird schnell klar. Hysterie, Bipolarität, Schizophrenie – so benennen es die Ärzte. Doch die kleine Familie will es nicht hören, nicht wahrhaben, nicht durchdringen lassen in den bisher gelebten Alltag voller Phantasie, Originalität und überschäumender Lebensfreude. Sie greift zu rabiaten Mitteln …

Auch in diesem Buch wird geweint: „Sie zog sich dann zurück und weinte und weinte und konnte gar nicht mehr aufhören, wie wenn man am Berg zu viel Schwung hat – “. „Sie war untröstlich, zwischen ihren Problemen und ihr war kein Fingerbreit für uns, der Platz war uneinnehmbar.“ Das ist kurz und knapp formuliert und geht doch so zu Herzen. Achtung: Das Ende ist unglaublich traurig und doch von einer solch stillen Heiterkeit durchzogen, dass ich erst lächeln und dann sogar lachen musste. Das Lachen blieb mir dann aber doch im Hals stecken. Es ist ein kleines Meisterwerk, dieses Büchlein. Und  typisch französisch.

Ich danke meinem Freund Wolter für diesen Tipp und gebe hiermit seine Anregung weiter, parallel zum Lesen „Mister Bojangles“ zu hören, meiner Meinung nach am schönsten von Sammy Davis Jr. gesungen. Und von mir kommt der Tipp, zunächst weggelegten Büchern zu einem späteren Zeitpunkt noch mal eine Chance zu geben! Und noch ein Tipp: Der Blog Ohrenschmaus hat sich dem Buch „Warten auf Bojangles“ – und natürlich dem Song „Mister Bojangles“ – von der musikalischen Seite genähert – auch lesens- und natürlich hörenswert, hier.

„Schlafen werden wir später“, von Zsuzsa Bánk

Ich habe „Die stillen Tage“ von Zsuzsa Bánk geliebt und war sehr gespannt auf ihren neuen Roman. Ich mochte ihren poetischen Schreibstil, ihre wunderbaren Wortschöpfungen sowie die Stimmung, die sie zu erzeugen vermag – und ihre ungewöhnlichen Figuren. Aber bei der Lektüre von „Schlafen werden wir später“ war ich lange unschlüssig – bewundere ich ihren noch manierierteren, noch elegischeren Sprachstil – oder lehne ich ihn ab? Gefällt mir dieses Buch? Zunächst ein klares „Jein“.

Die Idee ist gut: Ein E-Mail-Wechsel zwischen zwei knapp vierzigjährigen Frauen, die sich gegenseitig um das beneiden, was die andere hat. Martá hat drei kleine Kinder, einen unzuverlässigen Mann und wohnt in der lauten und schmutzigen Stadt Frankfurt; Johanna wurde vor kurzem von ihrem Freund verlassen, sie ist kinderlos und lebt im Schwarzwald. Sie hat gerade eine Brustkrebserkrankung überstanden und kämpft sich durch ihren Alltag als Lehrerin, nebenbei promoviert sie über Annette von Droste-Hülshoff.

Martá wünscht sich nur eins: Zeit und Muße zum Schreiben. Der Alltag mit drei kleinen Kindern und ständige finanzielle Sorgen verhindern das gründlich, und es gibt so gut wie keinen Briefwechsel, in dem sie nicht ausgiebig über ihre Situation jammert. Das Motiv ist bekannt aus der Literatur: Eine durch das Klein-Klein eines zermürbenden Alltags verhinderte Schriftstellerin. Johanna wiederum beklagt ihr Verlassensein, beneidet die Freundin um die Familie und rät ihr immer wieder aufs neue, sich an den süßen Kleinen zu erfreuen. Aber Martá gelingt das nur in wenigen Momenten. (Warum hat sie drei Kinder?) So ist der Ton des Briefwechsels überwiegend weinerlich, trieft stellenweise geradezu vor Selbstmitleid. Ungefähr auf Seite 100 war ich echt bedient.

Dennoch bin ich dran geblieben. Die innige Beziehung der beiden Frauen, dieser grundehrliche Austausch über Befindlichkeiten, das Sinnieren über die Vergänglichkeit des Lebens, das Feiern der Freundschaft – es hat auch etwas Kraftvolles, Tröstendes und auf Dauer immer Vertrauteres. Man taucht tief ein in diese Intimität zwischen Martá und Jo und freut sich mit den beiden, dass sie (wenigstens) sich haben. Jede Frau, die sich glücklich schätzt, eine solch enge Freundin zu haben, wird wissen, was ich meine. Und dass der Alltag oft mühsam ist und der Blick für all das Schöne im Leben ab und an verstellt ist, wer kennt das nicht. Also warum nicht darüber schreiben? Nach diesen Erkenntnissen habe ich gerne weiter gelesen. Und es wird immer besser!

Was aber  stört: Der Schreibstil der beiden Frauen unterscheidet sich nicht voneinander. Es dominiert der Zsuzsa Bánk Stil: Blumige Wortschöpfungen, aufeinander getürmte Adjektive, dreimalige Wiederholungen als wiederkehrendes Stilmittel bei beiden Schreiberinnen – man liest sich zwar ein und es ist sprachlich Schönes und kühn Kreatives darin, aber dennoch ist es für mich oft ein bisschen zu viel. Zu viel Klage, zu viel Weinerliches, zu viel Drama.

Mein Résumée: Wenn man sich darauf einlässt, dass (fast) nichts passiert (was ja grundsätzlich nicht schlecht sein muss), Freude an Bánks phantasievollem Schreibstil hat und durch eigene Erfahrungen sowohl die Klagen der beiden Frauen als auch die Intensität ihrer Freundschaft nachvollziehen kann, für den ist es eine lohnenswerte Lektüre. Die mit Sicherheit lange nachklingt.