„Aller Liebe Anfang“, von Judith Hermann

Hoch gelobt, viel dekoriert – ein Buch von Judith Hermann liest man nicht einfach mal so. Ich lese es mit Respekt, Ehrfurcht – und da ich mich inzwischen selber schriftstellerisch versuche, mit einer gewissen Beklommenheit. Thema des Romans ist die Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit des Glücks. Die Hauptperson Stella, Ehefrau und Mutter einer Tochter, die mit ihrer kleinen Familie ein alltägliches, zufriedenes Leben in einem Vorort führt, wird gestalkt. Von einem Mister Pfister; für mich ein genialer Name, fast lächerlich, konkret und doch anonym, scharf und spitz, mit der Assoziation „finster“.

Die Autorin stellt Fragen, die sie geschickt mit der sich langsam entwickelnden Stalking-Geschichte verknüpft – warum haben wir uns festgelegt – auf den einen Mann, auf Kinder, auf dieses eine Leben? Lange Zeit bleibt etwas in der Schwebe, warum ist Stella so unentschlossen, ambivalent Mister Pfister gegenüber, ärgert sich fast, als er sie im Supermarkt bei der ersten persönlichen Begegnung ignoriert? Welche Lücke füllt er in ihrem Leben, welchem Sehnen gibt er Nahrung?

Dann zieht sich die Schlinge zu, erst unmerklich, dann Schlag auf Schlag. Mehrere kurze Kapitel hintereinander erhöhen das Tempo, als retardierendes Moment wird die friedlich im Sandkasten spielende Tochter dazwischengeschoben, aber es vermag einen nicht wirklich zu beruhigen, zumal am Ende dieses superkurzen Kapitels die Falle endgültig zuschlägt; man hängt am Haken, und Stella nun eindeutig auch.

Die Sprache ist zart und fein, deutet vieles nur an, aber sie ist auch genau und unerbittlich. Nach der beschriebenen Zuspitzung des Konflikts wird die Person des Mister Pfister konkreter. Stella stellt sich vor, wie er aufwacht, wie er wohnt, lebt und verworrenes Zeug denkt. Sie besucht ihn. Wie wird das enden? Das ist durchaus spannend, und es treibt mich, weiter zu lesen. Aber immer wieder gibt es Passagen, die ich eigentlich langsamer lesen möchte, zum Beispiel, wenn Stella (sie ist Altenpflegerin) bei ihren eigenwilligen Patienten ist. Es ist kein Buch für die überfüllte S-Bahn; es verdient konzentriertes Lesen mit Raum zum wirken lassen. Dann ist es eine sehr lohnende Lektüre.