Die Enkelin, Bernhard Schlink 

Manches an dieser Geschichte ist etwas zu konstruiert, aber darauf kommt es letztlich nicht an. 

Kaspar entdeckt nach dem Tod seiner Frau Birgit, dass sie bei ihrer Jahre zurückliegenden Flucht zu ihm in den Westen viel mehr aufgegeben hat, als er ahnte. Sie war immer sehr verschlossen, hat wenig preisgegeben, und nun erfährt er, dass sie seinerzeit eine Tochter im Osten zurückgelassen hat. Kaspar begibt sich auf eine mühsame Suche und findet diese Tochter schließlich. Sie lebt mit Mann und Kind in einer völkischen Gemeinschaft auf dem Land. Das Kind, die vierzehnjährige Sigrun, findet ihren frisch aufgetauchten Stiefopa spannend, und auch Kaspar freut sich über die neu gewonnene Enkelin und bemüht sich um sie. 

Aber zwischen ihnen liegen Welten, das Mädchen ist in der völkischen Gemeinschaft fest verankert, und ihre Eltern wachen sorgsam über sie. „Sigrun gehört Deutschland, und ich werde nicht zulassen, dass du sie Deutschland wegnimmst,“ sagt der Vater mit drohendem Unterton zu dem neu aufgetauchten Fremden. Doch Kaspar kämpft unbeirrt um den Kontakt zu Sigrun, schafft auch, dass sie ihn besuchen darf, aber immer wieder führt ihn das an seine Grenzen. 

Man verfolgt gebannt den Weg, den Großvater und Enkelin miteinander zurücklegen, hält den Atem an, als sie das Konzentrationslager Ravensbrück besuchen. Man hat die selben Fragen, wie Kaspar sie sich stellt: „Wann und wie er zu Sigruns Ansichten etwas sagen und, vor allem, wie viel er sagen sollte, beschäftigte ihn. Lieber zu viel als zu wenig? Lieber zu wenig als zu viel? Wenn ein Ereignis oder Erlebnis dazu einlud oder nur wenn sie das Gespräch darauf brachte?“

Wie sehr muss Kaspar sich verbiegen? Über die klassische Musik und das Klavierspiel finden die beiden eine Schnittstelle. Doch wird das ausreichen? „Kaspar fühlte sich hilflos. Wie sollte er diesen Berg von Ressentiments abtragen?“ Das Buch hinterlässt aufgrund des Themas einen tiefen Eindruck, und Schlink ist auch ein großartiger Erzähler. Danke an Simone für den Tipp!

„Sungs Laden“, von Karin Kalisa

Ach ja, auch so könnte die Welt sein: Voller Verständnis für andere Kulturen, voller Empathie für die Mitmenschen, voller Elan für verrückte Aktionen, die das Leben ein kleines bisschen bunter und lebenswerter machen. Die Geschichte spielt in Berlin, im Prenzlauer Berg und beschreibt, wie sich waschechte Berliner und eingewanderte Vietnamesen nach und nach näherkommen. Es ist ein Märchen mit vielen Passagen, die für gute Laune sorgen, in der Geschichte ebenso wie beim Leser: „Über sein bärtiges Gesicht zog sich ein breites Grinsen, das mehrere Tage nicht daraus weichen wollte. Selbst nachts nicht“. (…) Seine Frau machte eine Skizze davon und „zeigte sie später jedem, der nicht glauben wollte, dass sie einen Mann an ihrer Seite hatte, dessen diebischer Spaß an einer schrägen Idee sich so tief in seine Mundwinkel und Lachfältchen gemeißelt hatte, dass sie selbst den Delta-Wellen des Tiefschlafes standhielten.“

So beginnt es: Der Direktor der Grundschule im Prenzlauer Berg ruft auf Druck des Schulamts eine „weltoffene Woche“ aus und fordert alle Schüler auf, etwas aus ihrer „Hintergrundkultur“ in die Schule mitzubringen. „Alles, nur nichts zu essen“, lautet die Anweisung, die den kleinen Minh und seinen Vater Sung tüchtig ins Schwitzen bringt. Doch die Oma weiß Rat und schleppt am nächsten Tag mit ihrem Enkel eine große hölzerne Puppe mit in die Schule. Das sorgt für tüchtig Aufsehen und setzt die Dinge in Gang …

So manches Ressentiment gegenüber Fremden wird da auf leichte Art und Weise offengelegt. Wunderbar z.B. die Beschreibung, wie der Opa seinen Enkel dazu anhält, die Rechtschreibfehler auf den Preisschildern des vietnamesischen Gemüsehändlers zu suchen – und dann erkennt, wie diese Fehler zustande kommen – und sehr nachdenklich wird.