Charlotte Link, Sechs Jahre. Der Abschied von meiner Schwester

Ein Buch, das es in sich hat, das natürlich traurig stimmt, aber auch nachdenklich und wütend. Es geht um das Sterben von Charlotte Links jüngerer Schwester Franziska, das sich über sechs Jahre hinzieht. Immerhin lebt Franziska noch sechs Jahre nach Erhalt der niederschmetternden Diagnose, die ihr den Tod noch im selben Jahr und ein grauenvolles Sterben in Aussicht stellt. Sechs Jahre, das ist durchaus viel in Anbetracht dieser Nachricht, doch was sind sechs Jahre für eine Mutter, die ihre Kinder gerne aufwachsen sehen möchte, fragt Link zu Recht. Manche Passagen sind kaum auszuhalten. Link beschreibt nicht nur die unterschiedlichen Stadien und die drei verschiedenen Krankheitsherde ihrer Schwester (einer schlimmer als der andere), sie beschreibt auch sehr eindringlich, was die Krankheit ihrer Schwester für sie selber und für die anderen Angehörigen bedeutet. Die permanente Angst einen nahestehenden Menschen zu verlieren, ruft bei der Autorin selber teilweise krasse körperliche Symptome hervor. Das liest sich erst etwas befremdlich, doch nachdem man verstanden hat, wie symbiotisch die Beziehung zwischen den Schwestern seit frühester Kindheit gewesen ist, kann man es gut nachvollziehen. 

Natürlich geht es auch viel um das deutsche Gesundheitssystem, in dem vieles im Argen liegt. Patienten mit mehr als einem Symptom haben es im deutschen Klinikalltag unglaublich schwer, weil jedes Problem für sich alleine betrachtet wird und es zu wenig Ärzte gibt, die den Menschen als Ganzes sehen. Es ist unglaublich, wie viele Fehldiagnosen Links Schwester im Verlaufe der sechs Jahre erhält und erschütternd, mit welcher Gefühllosigkeit „Todesurteile“ manchmal ausgesprochen werden. Das betont die Autorin immer wieder, dass sie daran zweifelt, dass tödliche Diagnosen einem auf besonders ehrliche und brutale Weise um die Ohren gehauen werden müssen. Auch wenn die Statistik das schlechte Ende nahelegt!

Link beschreibt, wie die Familie sich anfangs völlig dem Urteil der Ärzte und den Statistiken ausgeliefert fühlt, bis sie es langsam schaffen, sich davon zu emanzipieren. Aber natürlich, das betont sie, treffen sie auch auf wunderbare Ärzte und Pfleger, die voller Empathie den Menschen hinter dem Patienten sehen. Und es tut gut, dass Franziskas letzte Station eine mit positiven Erfahrungen ist.

Das Buch enthält eine ganze Menge hilfreicher Anregungen. So fertigt Link für die im Laufe der Zeit unglaublich umfangreiche Krankenakte ihrer Schwester eine Kurzfassung in Stichpunkten und Jahreszahlen an, damit jeder behandelnde Arzt sich schnell einen Überblick verschaffen kann. Eine super Idee – doch was nützt sie, wenn der Arzt die Akte noch nicht einmal aufschlägt! Und prompt eine Fehldiagnose stellt. Link macht immer wieder Mut sich zu wehren, hartnäckig nachzufragen und auf dem Besten für den Patienten zu bestehen. Und sie ermuntert, sich Unterstützung zu holen. Sie selbst hat eine sehr positive Begegnung mit einem Pfarrer, ihre Schwester profitiert lange von einem Mental-Coach. Und immer wieder betont Link, wie wichtig das Thema Hoffnung ist. Ohne Hoffnung ist der Patient verloren. Da ist sie dann wieder bei dem Thema Umgang und Kommunikation mit dem Patienten – WIE Botschaften übermittelt werden, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Empathie ist das Gebot der Stunde.

„Freu dich doch einfach, dass du atmen kannst“, sagt Franziska an einer Stelle zu ihrer Schwester, als die maulend vor ihrem Kleiderschrank steht und klagt, dass sie nichts zum Anziehen hat. „Du hast es gut. Du darfst leben.“ Das relativiert alle anderen Probleme, mit deren Bewertung wir Gesunden uns so manches Mal das Leben schwer machen …