Soweit die Störche ziehen, Theresia Graw

Nach einer Reihe von Büchern mit schwereren Themen wollte ich mal wieder einen Schmöker lesen, etwas Entspannendes. Historische Romane lese ich gerne, und für diesen hatte ich einen Tipp. Die Geschichte  fängt sehr idyllisch an. Dora, die junge Protagonistin, liebt 1939 das unbeschwerte Leben auf einem Gutshof in Ostpreußen; Gedanken macht sie sich höchstens darum, mit welchem Kleid sie ihren Schwarm Wilhelm am meisten beeindrucken kann. Ihre Figur ist mit Ecken und Kanten gezeichnet und erinnert ein wenig an Scarlett O’Hara. Die Protagonistin steht zwischen zwei Männern, das gehört natürlich zu solch einem Plot. 

Der Zweite Weltkrieg scheint in Ostpreußen zu der Zeit unendlich weit entfernt. Aber wir kennen den Lauf der Geschichte und wissen, dass die Idylle nicht von Dauer sein wird. Der ganze Wahnsinn des Kriegs mit all seinen Ausprägungen überrollt dann auch Dora und ihre Familie, und die junge Frau sieht sich unglaublichen Herausforderungen gegenüber. Die Figur der Dora hat die Autorin an ihre Mutter und an ihre Oma angelehnt, ebenso gibt es Übereinstimmungen mit deren Lebensgeschichten. 

Stimmungen sind wunderbar eingefangen – Landschaften, Jahreszeiten, Gerüche, das Leben auf einem Gutshof, die Flucht über die zugefrorene Ostsee, die Gräuel des Kriegs – man ist immer in der beschriebenen Situation dabei. Das Buch ist gut recherchiert, spannend und liest sich flüssig – die bedrückende Aktualität der Themen Krieg und Flucht muss man allerdings ausblenden für unbeschwerten Lesegenuss. 

„Das achte Leben“, von Nino Haratischwili

Was für ein Werk! Phänomenal, phantastisch, ganz besonders! Es übt einen unwiderstehlichen Sog aus. Je weiter man vordringt, desto intensiver, desto spannender, desto unglaublicher, desto erschütternder wird es. Erzählt wird die Geschichte der georgischen Familie Jaschi über sechs Generationen. „Das achte Leben“ ist aber noch viel mehr als eine Familiengeschichte – es ist ein großer historischer Roman, denn die Geschichte dieser Familie ist auch die Geschichte des europäischen Jahrhunderts, vornehmlich Georgiens und des Ostblocks. Die Zeitbezüge machen es also zusätzlich informativ und spannend. Acht Leben werden ausgebreitet. Acht Leben, die eingebettet werden in das Gesamtwerk wie die Fäden in einen Teppich, jedes hat es wirklich in sich, jedes einzelne ist durch bewegende Ereignisse geprägt. Jede Figur ist mit allergrößter Sorgfalt und Intensität gestaltet, es sind alles ganz besondere Persönlichkeiten mit teilweise abstrusen Gewohnheiten und Charakterzügen. Die Zahl Acht im Titel weist darauf hin, dass alle Ereignisse miteinander verbunden sind. Derer gibt es auf 1300 Seiten nicht gerade wenige … Aber immer wieder streut die Erzählerin ihre Betrachtungen über die Zusammenhänge ein, so dass man als Leser die Orientierung behält. Zigmal habe ich aber auch den in der hinteren Klappe abgebildeten, äußerst hilfreichen Stammbaum der Familie Jaschi nachgeschlagen und mir die Verwandtschaftsverhältnisse vor Augen geführt. 

Das Buch ist süffig geschrieben, immer wieder baut die Autorin Cliffhanger ein. So kostet zum Beispiel immer wieder ein Familienmitglied von dem unglaublichen, nach einem Geheimrezept zubereiteten heißen Schokoladen-Trunk, und jedes Mal fragt man sich, ist es wirklich wahr, liegt tatsächlich ein Fluch auf der Schokolade?

Manchmal ist es mir im Ablauf der irren Ereignisse ein Zufall zu viel oder ein bisschen zu dick aufgetragen, aber es vermag den Gesamteindruck nicht zu trüben. Empfohlen wurde es mir vor geraumer Zeit, aber bisher hatten mich die knapp 1300 Seiten zögern lassen. Nun habe ich es geschenkt bekommen und verschlungen. Das Ende ist einfach wunderbar – alles fügt sich zusammen, und es gelingt der Autorin mit einem Kunstgriff, den Leser weiterdenken zu lassen, sie ermuntert ihn, die Geschichte im Kopf weiterzuschreiben, weiter am Teppich zu weben. Zeit nehmen und eintauchen!