Südlich vom Ende der Welt, mein Jahr in der Antarktis, Carmen Possnig

Mit zwölf weiteren Menschen, Wissenschaftlern, Forschern, Technikern und Support-Personal, verbringt die junge Autorin ein Jahr in der Antarktis, in der Forschungsstation Concordia. Unter irren Bedingungen: Die Temperaturen gehen im Winter bis auf -80° Grad herunter, im Sommer gibt es zwischen -30 und -45° Grad. Die Station liegt auf 3.800 m Höhe, das bedeutet Höhenkrankheit und Sauerstoffmangel. Im Mai geht die Sonne ein letztes Mal unter und taucht erst Mitte August wieder auf. Da es im Winter unmöglich ist, dort ein Flugzeug zu landen, ist eine Evakuierung über Monate ausgeschlossen. 

Possnig hat den Auftrag, zu erforschen, wie sich der Mensch an die Extrembedingungen anpasst. Das sind zum einen medizinische Erkenntnisse, zum anderen geht es natürlich darum, wie kommen die Menschen psychisch mit der Isolation und den ganzen anderen Herausforderungen zurecht? Wie verändern sich die motorischen und kognitiven Fähigkeiten in der Zeit des Eingesperrtseins? Es ist ja eine Zeit der sensorischen Deprivation, es fehlen lebensnotwendige Sinneseindrücke. Was macht das mit jedem Einzelnen? Und wie entwickelt sich die Gruppendynamik einer zusammengewürfelten Truppe (11 Männer, 2 Frauen) unter solch extremen Bedingungen? 

Die Antarktis hat einen Hang zu Superlativen: Nicht nur die Temperaturen, sondern auch unsere Emotionen, Reaktionen aufeinander, sind im Extremen beheimatet. Bemerken tun wir das zwar hauptsächlich an unserem Gegenüber, natürlich ist aber jeder von uns davon betroffen. Auch ich. 

Zwar lässt die Autorin immer wieder anklingen, dass es reichlich Konflikte gibt, sie bleibt dabei aber leider meist ziemlich im Vagen. Es ist offensichtlich, dass sie dieses Jahr unglaublich genossen hat, sie bedauert das Ende der Isolation. Aber einigen ihrer Kollegen ist es wohl deutlich anders ergangen, und sie sind heilfroh, die Station wieder verlassen zu können. Ich hatte das Gefühl, nur über die Spitze des Eisbergs gelesen zu haben, was die Schwierigkeiten in diesem Jahr anbelangt. Aber ich bin voller Respekt und Ehrfurcht vor dem Mut und dem Engagement dieser Menschen; ich habe viel über die Antarktis gelernt, immer wieder die großartigen Fotos angeschaut und ein Leseerlebnis der besonderen Art genossen.

Ich hätte nicht zu diesem Buch gegriffen, wenn es mir nicht empfohlen worden wäre. Danke an Wolter für den Tipp!

Unterleuten, Juli Zeh

In dieser Woche läuft die Verfilmung von Juli Zehs Bestseller im Fernsehen. Ich bin sehr gespannt, wie die Geschichte umgesetzt wird … Eine kleine Dorfgemeinschaft zerbricht am Streit über ein paar geplante Windräder – das ist grob gesagt der Plot dieses sozialkritischen Romans. Der Windpark würde Millionen einbringen, vor allem natürlich den glücklichen Besitzern der dafür benötigten Grundstücke. Allerdings hat keiner der Grundstückbesitzer ein genügend großes Stück Land. Allianzen müssen gebildet werden, um zum Ziel zu kommen. Uralte Konflikte brechen auf, neue kommen hinzu. Die vermeintliche Dorf-Idylle hat zwei Pärchen nach Unterleuten geführt, dem einen Paar vergeht schnell Hören und Sehen, das andere mischt bald mit. Aber nicht nur das Landleben bekommt sein Fett weg, ein Thema nach dem anderen nimmt Zeh sich vor – Ost gegen West, Macht und Moral, Sozialismus und Kapitalismus, Ehekrisen und Helikoptereltern. Puh, was für eine Geschichte, was für Charaktere, was für eine Gruppendynamik.

Zu Beginn werden sehr ausführlich die einzelnen Figuren eingeführt. Zeh gelingt es meisterhaft, die Personen durch ihre Handlungen und durch Dialoge zu charakterisieren. Jedes Kapitel widmet sich einer anderen Person und ihrer Perspektive, alle Protagonisten sind erst einmal eher unsympathisch. Allerdings schafft Zeh es immer wieder, auch ihre menschlichen Seiten zu zeigen und Verständnis für ihr Handeln und Denken zu wecken. Bis die eigentliche Handlung einsetzt, dauert es etwas.

Zeh hat einen grandiosen Stil, sie beschreibt gnadenlos genau, bissig und messerscharf, wie Menschen ticken. Ich fühlte mich etwas durchgerüttelt, immer wieder neue Wendungen, Intrigen und Ränke – es macht einen ganz schwindelig. Ein Wohlfühlroman ist Unterleuten nicht –  Werbung fürs Landleben auch nicht. Und man muss Zehs trockenen Humor, der sehr häufig an Zynismus grenzt, mögen. Eine kleine Kostprobe; es geht um Kathrin, die Pathologin:

„Leichen besaßen einen eklatanten Vorteil gegenüber Patienten: Sie konnten bis zum nächsten Morgen warten. Kathrin wollte ein Leben ohne Nachtschichten, ohne Visiten, überfüllte Notaufnahmen und Bereitschaftsdienst. Ihre Kundschaft wartete in Kühlfächern geduldig darauf, dass sie zur Arbeit kam.“