Die Unzertrennlichen, Simone de Beauvoir 

Erschüttert habe ich dieses Buch zugeklappt. Es geht in dem autofiktionalen Roman um gesellschaftliche Etikette zu Beginn des 20. Jahrhunderts, um den Druck der Familie, das rigide Religionsverständnis, den Umgang mit Frauen, der ihnen jegliche eigene Wünsche untersagte und sie brutal unterdrückte.

Das schmale Büchlein enthält neben dem Text auch Fotos und Briefe; erzählt wird die Geschichte einer sehr engen Frauenfreundschaft, die 1919 beginnt, als die beiden Mädchen Sylvie und Andrée mit neun Jahren in der Schule aufeinander treffen. Sylvie (Simone de Beauvoir) entwickelt eine schwärmerische Zuneigung für Andrée (Kosename Zaza). Sylvie alias Simone wächst sehr behütet auf, es gelingt ihr aber, sich aus der für Frauen vorgesehenen Rolle  – Heirat, tugendhaftes Leben als Hausfrau und Mutter – zu befreien. 

Andrée stammt aus einer kinderreichen Familie; sie nimmt sich zu Beginn mehr Freiheiten heraus als ihre Freundin Sylvie/Simone, sie ist die Leidenschaftlichere der beiden, die Impulsive. Aber sie leidet zunehmend unter den an sie gestellten Erwartungen. So begehrt sie einesteils gegen ihr streng katholisches Elternhaus auf, in dem Gehorsam gegen Gott erwartet wird und in dem Küsse vor der Ehe verboten sind. Andererseits möchte sie ihre Eltern, vor allem ihre Mutter, keinesfalls enttäuschen. Im ständig wachsenden Zwiespalt zwischen ihren Idealen und Wünschen einerseits und dem auferlegten Rollendruck und der verlogenen Tugendhaftigkeit andererseits, zerreibt Andrée sich zunehmend. Sylvie alias Simone sieht entsetzt zu und findet keinen Weg, um der Freundin zu helfen.

Beauvoirs Lebenspartner Sartre hielt das Manuskript für zu intim für eine Veröffentlichung. Mehr als 30 Jahre nach Beauvoirs Tod kam es in Deutschland auf den Markt. Ich finde es sehr interessant, denn darüber erschließt sich auch ein Verständnis für de Beauvoirs weiteren Lebensweg und die Bücher, die sie geschrieben hat. Und wieder einmal bin ich dankbar, in einer für uns Frauen schon deutlich leichteren Zeit geboren und aufgewachsen zu sein. 

Amy & Isabelle, Elizabeth Strout

Noch einmal Strout! Nachdem ich so begeistert von der Autorin bin, habe ich nach weiteren Büchern von ihr gesucht. Amy & Isabelle ist ihr erster Roman. Er wurde für die Shortlist des Orange Prize und den PEN/Faulkner Award nominiert und wurde ein Bestseller. Auch hier ist das Thema eine Mutter-Tochter-Beziehung. Der Roman beginnt: Der Sommer, in dem Mr. Robertson die Stadt verließ … Da weiß man als Leser sofort um die Bedeutung von Mr. Robertson. Er wird im Leben der sechzehnjährigen Amy und ihrer Mutter Isabelle eine große Rolle spielen. Die beiden leben alleine, und ihre Beziehung ist von den normalen Aufs und Abs zwischen Mutter und Tochter geprägt. 

Doch dann geschieht etwas, das ihrer beider Welt aus den Angeln hebt und die Beziehung dramatisch verschlechtert. Die Mutter muss sich mit ihrer verdrängten Vergangenheit auseinandersetzen, die Tochter wünscht sich weit weg und versucht verzweifelt, ihren eigenen Weg zu finden.

Die unglaubliche Genauigkeit, mit der Strout schreibt, verblüfft und begeistert mich immer wieder aufs Neue. Großartig sind die Szenen zwischen der spröden, kontaktscheuen Isabelle und den beiden Arbeitskolleginnen, die sie langsam in ihr Leben lässt und die zu Freundinnen werden. Und kann man eine Frauenfreundschaft besser beschreiben als so: (...) jene Art Gelächter, wie es sich bei zwei Frauen ergibt, die sich seit vielen Jahren kennen, die in ihren gegenseitigen vertrauten kleinen Äußerungen Trost und Freude finden und die, wenn das Lachen seinen Lauf genommen hat – gelegentlich bleibt ein kleines Kichern zurück und ein Betupfen der Augen mit einem Papiertuch –, die verweilende Wärme eines menschlichen Bündnisses eint, das Wissen, das man letztendlich doch nicht so allein ist. 

Beeindruckend, famos, großartig. Ich sage nur: Lesen!

„Die Geschichte eines neuen Namens“, von Elena Ferrante

Höchst unterhaltsam, hoch spannend und gleichzeitig anspruchsvolle Literatur: Einfach fantastisch, die vierbändige Neapolitanische Saga um zwei italienische Frauen. Etwas zögernd hatte ich mir den 2. Band vorgenommen. Bin ich vielleicht beim 1. Buch nur dem wahnsinnigen Hype aufgesessen? Nein, bin ich nicht. Wird die Autorin die Spannung halten können? Sie kann. Passiert genug, um eine Fortsetzung zu rechtfertigen? Es passiert genug. Geradezu atemlos habe ich die Geschichte von Lenù und Lila weiterverfolgt. Lila ist inzwischen verheiratet und lebt weiter im Rione – ihr Leben ist mindestens so bewegt wie das von Lenù, die im 2. Band in Pisa zu studieren beginnt. Dort trifft sie die bittere Erkenntnis, dass alle ihre Lernanstrengungen niemals ausreichen werden, um ihre (in jeglicher Hinsicht) ärmliche Herkunft komplett hinter sich zu lassen. Sie spürt, wie anders ihre Studienkollegen aufgewachsen sind, wie sie Wissen von klein auf aufgesogen haben, sich geübt haben in Tischgesprächen mit ihren Eltern, ihre Bildung systematisch immer weiter ausgebaut haben. „Erfolg allein genügte nicht, man brauchte noch etwas anderes, und das hatte ich nicht, ich konnte es auch nicht lernen.“

Sehr eindringlich und mit wunderbaren Worten beschreibt die Autorin Lenùs fortwährenden Kampf mit Minderwertigkeitsgefühlen und Ängsten. Wie sie überhaupt sprachlich großartig, dicht und mitreißend schreibt, egal ob es um die Gefühle der beiden Protagonistinnen geht oder um die Verhältnisse im Italien der 50er Jahre. Und ohne zu viel vom Inhalt zu verraten: Lila, die durch ihre Heirat den ärmlichen Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen ist, zunächst zu entkommen scheint, hat es auch nicht leicht …

Etwas schwer tue ich mich mit der Behauptung, das Buch sei „Das beste Portrait einer Frauenfreundschaft in der modernen Literatur.“ (The New York Times). Der Umgang der beiden Frauen miteinander sprengt für mich so manches Mal die Grenzen einer Freundschaft. Aber das mag auch den rauen Sitten im Neapel der 50iger Jahre und speziell im Viertel Rione geschuldet sein. Wir sind heutzutage vielleicht einfach „weichgespülter“? Immerhin scheinen die beiden Frauen durch ein unsichtbares Band aneinander gebunden, fast gekettet. Aber diese Frage – sind es wirklich Freundinnen, und ist das Thema der Saga diese Frauenfreundschaft – fände ich spannend zu diskutieren und ich würde mich freuen, wenn die eine oder der andere hierzu mal ein Feedback gibt!

 

 

„Schlafen werden wir später“, von Zsuzsa Bánk

Ich habe „Die stillen Tage“ von Zsuzsa Bánk geliebt und war sehr gespannt auf ihren neuen Roman. Ich mochte ihren poetischen Schreibstil, ihre wunderbaren Wortschöpfungen sowie die Stimmung, die sie zu erzeugen vermag – und ihre ungewöhnlichen Figuren. Aber bei der Lektüre von „Schlafen werden wir später“ war ich lange unschlüssig – bewundere ich ihren noch manierierteren, noch elegischeren Sprachstil – oder lehne ich ihn ab? Gefällt mir dieses Buch? Zunächst ein klares „Jein“.

Die Idee ist gut: Ein E-Mail-Wechsel zwischen zwei knapp vierzigjährigen Frauen, die sich gegenseitig um das beneiden, was die andere hat. Martá hat drei kleine Kinder, einen unzuverlässigen Mann und wohnt in der lauten und schmutzigen Stadt Frankfurt; Johanna wurde vor kurzem von ihrem Freund verlassen, sie ist kinderlos und lebt im Schwarzwald. Sie hat gerade eine Brustkrebserkrankung überstanden und kämpft sich durch ihren Alltag als Lehrerin, nebenbei promoviert sie über Annette von Droste-Hülshoff.

Martá wünscht sich nur eins: Zeit und Muße zum Schreiben. Der Alltag mit drei kleinen Kindern und ständige finanzielle Sorgen verhindern das gründlich, und es gibt so gut wie keinen Briefwechsel, in dem sie nicht ausgiebig über ihre Situation jammert. Das Motiv ist bekannt aus der Literatur: Eine durch das Klein-Klein eines zermürbenden Alltags verhinderte Schriftstellerin. Johanna wiederum beklagt ihr Verlassensein, beneidet die Freundin um die Familie und rät ihr immer wieder aufs neue, sich an den süßen Kleinen zu erfreuen. Aber Martá gelingt das nur in wenigen Momenten. (Warum hat sie drei Kinder?) So ist der Ton des Briefwechsels überwiegend weinerlich, trieft stellenweise geradezu vor Selbstmitleid. Ungefähr auf Seite 100 war ich echt bedient.

Dennoch bin ich dran geblieben. Die innige Beziehung der beiden Frauen, dieser grundehrliche Austausch über Befindlichkeiten, das Sinnieren über die Vergänglichkeit des Lebens, das Feiern der Freundschaft – es hat auch etwas Kraftvolles, Tröstendes und auf Dauer immer Vertrauteres. Man taucht tief ein in diese Intimität zwischen Martá und Jo und freut sich mit den beiden, dass sie (wenigstens) sich haben. Jede Frau, die sich glücklich schätzt, eine solch enge Freundin zu haben, wird wissen, was ich meine. Und dass der Alltag oft mühsam ist und der Blick für all das Schöne im Leben ab und an verstellt ist, wer kennt das nicht. Also warum nicht darüber schreiben? Nach diesen Erkenntnissen habe ich gerne weiter gelesen. Und es wird immer besser!

Was aber  stört: Der Schreibstil der beiden Frauen unterscheidet sich nicht voneinander. Es dominiert der Zsuzsa Bánk Stil: Blumige Wortschöpfungen, aufeinander getürmte Adjektive, dreimalige Wiederholungen als wiederkehrendes Stilmittel bei beiden Schreiberinnen – man liest sich zwar ein und es ist sprachlich Schönes und kühn Kreatives darin, aber dennoch ist es für mich oft ein bisschen zu viel. Zu viel Klage, zu viel Weinerliches, zu viel Drama.

Mein Résumée: Wenn man sich darauf einlässt, dass (fast) nichts passiert (was ja grundsätzlich nicht schlecht sein muss), Freude an Bánks phantasievollem Schreibstil hat und durch eigene Erfahrungen sowohl die Klagen der beiden Frauen als auch die Intensität ihrer Freundschaft nachvollziehen kann, für den ist es eine lohnenswerte Lektüre. Die mit Sicherheit lange nachklingt.