Gérard Salem, Du wirst an dem Tag erwachsen, an dem du deinen Eltern verzeihst

Ein Buch der etwas anderen Art – es sind ausschließlich Briefe – aber als Briefroman würde ich es trotzdem nicht bezeichnen. Aber es ist eine Hommage ans Briefeschreiben. Erzählt wird die Geschichte einer Familie. Einer „ganz normalen“ Familie, mit großen Schwierigkeiten, nicht offen geäußerter Liebe, Vorwürfen, Kränkungen, Missverständnissen. Aber auch mit viel Zusammenhalt und Wärme. So steht in einem Brief: „Meine Familie hat mir beigestanden in dem Tal der Tränen (…), Familie ist eine Art Reservetruppe, die einem immer zur Verfügung steht.“

Boris, der Älteste von vier Geschwistern, der sich vor Jahren von seiner Familie losgesagt hat und aktuell große Probleme mit seinem Leben hat, erhält von seinem Therapeuten den Rat, wieder Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen. Aber ausschließlich per handgeschriebenem Brief. Boris, der nichts mehr zu verlieren hat, vertraut seinem Therapeuten und schreibt tatsächlich an seine Eltern. Sie antworten per Brief. Die Geschwister werden miteinbezogen und schreiben ebenfalls untereinander. Boris’ Brief löst eine Briefflut innerhalb der weitverzweigten Familie aus. Und die Dinge geraten in Bewegung.

Im Anhang ist eine Ahnentafel dargestellt – ich habe die leider zu spät entdeckt und mich mit den vielen Namen etwas schwer getan. Das Buch hat mir sehr gut gefallen, zum einen, weil ich handgeschriebene Briefe sehr schätze und mir deren Kraft einleuchtet. Zum andern finde ich es auch sehr interessant, die verschiedenen Facetten des Familienlebens durch verschiedene Absender kennenzulernen – und damit die Perspektiven der alten, mittelalten und jungen Mitglieder der Familie.

Astrid Lindgren Louise Hartung, Ich habe auch gelebt! Briefe einer Freundschaft

Briefwechsel sind wunderbare Dokumente – sie bringen einem die Schreibenden nahe und gleichzeitig lassen sie einen unmittelbar am Zeitgeschehen teilhaben. Die berühmte Astrid Lindgren und die ebenso beeindruckende Louise Hartung wechseln zwischen 1953 und 1965 eine Fülle hochinteressanter Briefe. Die beiden lernen sich auf einer von Hartung für Lindgren organisierten Lesereise in Deutschland kennen. Hartung ist begeistert von Pippi Langstrumpf und tut alles dafür, Lindgren in Deutschland bekannt zu machen. 

Mit jedem Brief sind wir abwechselnd in Stockholm und in Berlin – gerade dort ist das natürlich eine äußerst bewegte Zeit: Wiederaufbau, Kennedy-Besuch und -Attentat, Mauerbau. Lindgrens Leben wird neben dem Schreiben stark durch die Familie bestimmt: Kinder, Enkel, alte Eltern. Der Briefwechsel zeigt, wie zerrissen Lindgren teilweise war „ich kann nichts dafür, dass mein Leben in viele viele kleine Stücke zerlegt ist, von denen viele verschiedene Menschen ihr Teil beanspruchen.“ Anfangs leidet man als Leser unter dem Ungleichgewicht der Beziehung: Lindgren will Freundschaft, Hartung will Liebe. Hartung ist alleinstehend, Lindgren hat ihre ständig wachsende Familie, von Hartung als „dein Klan und dein Klüngel“ bezeichnet. Sie klagt, dass sie sich ans Ende einer bestehenden Schlange „einer Boa Constrictor“ anstellen muss und nicht wichtig genug für Lindgren ist. „Der Berliner nennt das am steifen Arm zum Fenster heraushalten.“ Lindgren fühlt sich bedrängt und verteidigt sich …

Im Laufe der Jahre rücken die Frauen aber doch deutlich näher zusammen und machen gemeinsame Reisen. Beim Lesen freut man sich über jedes persönliche Aufeinandertreffen der Freundinnen. Beide schreiben klug und tiefschürfend, mit großem Wissen, aber auch witzig und locker. Über die großen Themen tauschen sie sich ebenso aus wie über die kleinen Freuden und Widrigkeiten des Alltags. So erfährt man viel über das Leben der 50er Jahre in Deutschland und über das Leben der wichtigsten Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts in Schweden; es ist eine tolle Korrespondenz zwischen zwei starken und beeindruckenden Frauen in einer sehr bewegten Zeit. Ich habe jedenfalls intensiv am Leben dieser beiden besonderen Frauen teilgenommen und war sehr traurig, als der Briefwechsel mit Hartungs Tod jäh endet. Es gibt viele Fußnoten, die auf interessante Anmerkungen im Anhang verweisen, ein echtes Zeitdokument, unbedingt empfehlenswert!

Im Laufe der Jahre rücken die Frauen aber doch deutlich näher zusammen und machen gemeinsame Reisen. Beim Lesen freut man sich über jedes persönliche Aufeinandertreffen der Freundinnen. Beide schreiben klug und tiefschürfend, mit großem Wissen, aber auch witzig und locker. Über die großen Themen tauschen sie sich ebenso aus wie über die kleinen Freuden und Widrigkeiten des Alltags. So erfährt man viel über das Leben der 50er Jahre in Deutschland und über das Leben der wichtigsten Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts in Schweden; es ist eine tolle Korrespondenz zwischen zwei starken und beeindruckenden Frauen in einer sehr bewegten Zeit. Ich habe jedenfalls sehr intensiv am Leben dieser beiden besonderen Frauen teilgenommen und war sehr traurig, als der Briefwechsel mit Hartungs Tod jäh endet. Es gibt sehr viele Fußnoten, die auf interessante Anmerkungen im Anhang verweisen, ein echtes Zeitdokument, unbedingt empfehlenswert!

„Schlafen werden wir später“, von Zsuzsa Bánk

Ich habe „Die stillen Tage“ von Zsuzsa Bánk geliebt und war sehr gespannt auf ihren neuen Roman. Ich mochte ihren poetischen Schreibstil, ihre wunderbaren Wortschöpfungen sowie die Stimmung, die sie zu erzeugen vermag – und ihre ungewöhnlichen Figuren. Aber bei der Lektüre von „Schlafen werden wir später“ war ich lange unschlüssig – bewundere ich ihren noch manierierteren, noch elegischeren Sprachstil – oder lehne ich ihn ab? Gefällt mir dieses Buch? Zunächst ein klares „Jein“.

Die Idee ist gut: Ein E-Mail-Wechsel zwischen zwei knapp vierzigjährigen Frauen, die sich gegenseitig um das beneiden, was die andere hat. Martá hat drei kleine Kinder, einen unzuverlässigen Mann und wohnt in der lauten und schmutzigen Stadt Frankfurt; Johanna wurde vor kurzem von ihrem Freund verlassen, sie ist kinderlos und lebt im Schwarzwald. Sie hat gerade eine Brustkrebserkrankung überstanden und kämpft sich durch ihren Alltag als Lehrerin, nebenbei promoviert sie über Annette von Droste-Hülshoff.

Martá wünscht sich nur eins: Zeit und Muße zum Schreiben. Der Alltag mit drei kleinen Kindern und ständige finanzielle Sorgen verhindern das gründlich, und es gibt so gut wie keinen Briefwechsel, in dem sie nicht ausgiebig über ihre Situation jammert. Das Motiv ist bekannt aus der Literatur: Eine durch das Klein-Klein eines zermürbenden Alltags verhinderte Schriftstellerin. Johanna wiederum beklagt ihr Verlassensein, beneidet die Freundin um die Familie und rät ihr immer wieder aufs neue, sich an den süßen Kleinen zu erfreuen. Aber Martá gelingt das nur in wenigen Momenten. (Warum hat sie drei Kinder?) So ist der Ton des Briefwechsels überwiegend weinerlich, trieft stellenweise geradezu vor Selbstmitleid. Ungefähr auf Seite 100 war ich echt bedient.

Dennoch bin ich dran geblieben. Die innige Beziehung der beiden Frauen, dieser grundehrliche Austausch über Befindlichkeiten, das Sinnieren über die Vergänglichkeit des Lebens, das Feiern der Freundschaft – es hat auch etwas Kraftvolles, Tröstendes und auf Dauer immer Vertrauteres. Man taucht tief ein in diese Intimität zwischen Martá und Jo und freut sich mit den beiden, dass sie (wenigstens) sich haben. Jede Frau, die sich glücklich schätzt, eine solch enge Freundin zu haben, wird wissen, was ich meine. Und dass der Alltag oft mühsam ist und der Blick für all das Schöne im Leben ab und an verstellt ist, wer kennt das nicht. Also warum nicht darüber schreiben? Nach diesen Erkenntnissen habe ich gerne weiter gelesen. Und es wird immer besser!

Was aber  stört: Der Schreibstil der beiden Frauen unterscheidet sich nicht voneinander. Es dominiert der Zsuzsa Bánk Stil: Blumige Wortschöpfungen, aufeinander getürmte Adjektive, dreimalige Wiederholungen als wiederkehrendes Stilmittel bei beiden Schreiberinnen – man liest sich zwar ein und es ist sprachlich Schönes und kühn Kreatives darin, aber dennoch ist es für mich oft ein bisschen zu viel. Zu viel Klage, zu viel Weinerliches, zu viel Drama.

Mein Résumée: Wenn man sich darauf einlässt, dass (fast) nichts passiert (was ja grundsätzlich nicht schlecht sein muss), Freude an Bánks phantasievollem Schreibstil hat und durch eigene Erfahrungen sowohl die Klagen der beiden Frauen als auch die Intensität ihrer Freundschaft nachvollziehen kann, für den ist es eine lohnenswerte Lektüre. Die mit Sicherheit lange nachklingt.

 

 

„Das glückliche Buch der a.p.“, von Christine Brückner

Lieblingsbücher begleiten einen ein Leben lang – stimmt das wirklich? Ich habe festgestellt, dass mir einige Bücher, die ich seinerzeit als Lieblingsbücher auserkoren hatte, später nicht mehr so gut gefallen.

Aber bei diesem war es anders: Ich habe es genauso gerne gelesen wie vor vielen Jahren. Obwohl die Form ein bisschen aus der Zeit gefallen ist: Es ist ein Briefroman. Die strenge Definition dieser Gattung besagt, dass es ein vollständig oder zumindest überwiegend aus fiktiven Briefen bestehender Roman ist. Das ist hier nicht der Fall. Denn diese Briefe sind authentisch. Das macht es so besonders, so spannend und so glaubwürdig.

Der Briefwechsel schildert die langsame Annäherung des Schriftstellerpaares Christine Brückner und Otto Heinrich Kühner, ein Prozess, der über rund fünfzehn Jahre läuft, bis beide sich auf das Wagnis einer zweiten Ehe einlassen.

Vorsichtiges Abtasten wechselt ab mit kollegialem Austausch, kokettes Flirten mit brüsker Distanzierung. Ab einem bestimmten Stadium ist klar: beide brennen lichterloh. Aber dann treten die Unterschiede zwischen ihr und ihm hervor. Sie sagt, erst kommt das Leben, dann das Schreiben, bei ihm kommt erst das Schreiben, dann das Leben. Sie ist eine brauchbare Frau für den gelebten Alltag, er der Mann für Trennungen, die ihn die Liebe noch deutlicher spüren lassen. „Ich will ihn für alle Fälle. Ich will die Regel. Er die Ausnahme.“

’Wegfahrer’ nennt sie ihn, ’Nichtsnutz’, ’Vagabund’ – das ist durchaus liebevoll gemeint und doch immer eine Spur bitter, weil er sich ihr ständig entzieht, sich nicht völlig einlässt. Aber sie überwinden alle Klippen und drücken tiefe Freude und Dankbarkeit über das Glück im fortgeschrittenen Alter aus. (Dazu muss man wissen: Beide sind 1921 geboren und gerade mal in ihren Vierzigern!)

Die Briefe sind originell, lebendig, witzig, welthaltig, verzagt, das Leben umspannend – und natürlich sind sie immer geschliffen formuliert, einfach großartig. „Der Oktober novemberte sich zu Ende“, was für ein Bild! Ab und an gibt es Einschübe, Aktennotizen aus offiziellen Schreiben, Urlaubsimpressionen, philosophische Betrachtungen, alle klug formuliert und gut zu lesen, aber am besten gefallen mir die Briefe.

Das Buch gibt es leider nur noch antiquarisch.