Was für eine Oma will ich sein?

Ein Leserbrief mit der Frage „Bin ich eine schlechte Oma?“ aus der aktuellen freundinDONNA hat mich mitten ins Herz getroffen. Auch mich treibt ständig die Frage um, „Was für eine Oma will ich sein?“, die ja immer einhergeht mit der Frage „Was möchte ich noch vom Leben?“ Im besagten Artikel geht es um eine Tochter, die von ihrer Mutter verlangt, dass sie ihre Berufstätigkeit reduziert, um mehr für die Enkel da zu sein.
Das empfinde ich als unverschämt und undankbar, profitiert sie doch finanziell von der Berufstätigkeit der Mutter!

Ab und an macht auch meine Tochter eine Andeutung, was andere Großeltern leisten, und ich kann auch sehr gut verstehen, dass sie sich Unterstützung wünscht. Und natürlich habe ich auch selber dieses „Du solltest, Du müsstest“ in mir und finde es nicht leicht, damit umzugehen. Da ich nicht mehr berufstätig bin, habe ich die Möglichkeit zur Hilfe, wohne allerdings in Wiesbaden und die Familie wohnt in Köln. Mein (Berufs-)Leben war über weite Strecken äußerst anstrengend, vieles ist zu kurz gekommen, und so habe ich zum einen das Bedürfnis nach Ruhe und zum anderen den Wunsch, mir noch den großen Traum zu erfüllen, einen Roman zu schreiben.

Aber natürlich liebe ich meine Familie, ich habe mir auch glühend Enkelkinder gewünscht.  Die Zeit mit meiner Enkelin ist ein wunderbares Geschenk, ich kann die Stunden mit der Zweijährigen ganz anders genießen, als seinerzeit die mit meinen Kindern als junge, teilweise alleinerziehende Mutter. Die Zeiten mit ihr strengen mich aber auch an – es fällt mir nicht ganz leicht das zuzugeben, aber wie sagte eine Freundin doch so treffend: „Es ist gut, dass wir die Kinder mit Mitte Zwanzig bekommen haben und nicht mit Mitte Sechzig“: Die Belastbarkeit ist einfach nicht mehr so hoch. Und als ältere Frau ist man sich viel bewusster als früher, dass das Leben endlich ist und sollte sich prüfen, was man noch möchte von den letzten Jahren. Jede Frau sollte für sich ausloten, wieviel sie zu geben bereit ist.

Im erwähnten Artikel wurde zur Diskussion gestellt, ob es eine Verpflichtung gibt, sich um die Enkel zu kümmern. Ich finde, dass man sich um vieles bringt, wenn man es nicht tut – wunderbare Stunden mit diesen zauberhaften kleinen Wesen und das gute Gefühl, die junge Familie unterstützt zu haben. Aber ich finde, man hat auch das Recht zu sagen, dieses oder jenes wünsche ich mir noch vom Leben und deshalb stehe ich nicht unbegrenzt zur Verfügung. Ich habe meiner Tochter, als sie schwanger war, gesagt, auch wenn ich in Köln wohnen würde, würde ich Euch nicht die Kita ersetzen – aus besagten Gründen. Das ist mir schwergefallen, denn man möchte doch so gerne geliebt werden und die perfekte Mutter und Oma sein. Also muss man dann auch aushalten, dass man das nicht ist!

Für mich heißt die Devise: aushelfen, einspringen, teilhaben, sich kümmern – es ist keine Frage des OB, sondern des WIEVIEL, das Ausmaß muss sicherlich immer wieder neu austariert werden. Dazu gilt es sich zu prüfen, ob die aktuelle „Beteiligung“ passt oder zur Belastung wird und letzteres dann offen und ehrlich den Kindern zu kommunizieren. Eine echte Herausforderung, denn das schlechte Gewissen lauert immer im Hintergrund – aber was wäre das Leben ohne Herausforderungen!

Vom Ostwind verweht – Urlaub der besonderen Art

Sie sollten den Frühling einläuten, die Erkältungsviren endgültig vertreiben und uns mit viel Sonne ein Lächeln ins Gesicht zaubern – die Tage auf Juist Ende März. Eine Woche Urlaub mit Enkelkind, Tochter und Schwiegersohn auf einer wunderbaren Insel, das hatten wir uns in den schönsten (und wärmsten) Farben ausgemalt. Meine Tochter und ich saßen gedanklich schon im Strandkorb und schauten der kleinen Hannah beim Buddeln im Sand zu, während die Männer Drachen steigen lassen würden, alles ganz entspannt, versteht sich.

Der Urlaub rückte näher, die Erwartungen wurden notgedrungen mittels wetter.de angemessen angepasst  – dachten wir …

Samstag Abend: Eine gute Stunde vor Ankunft am Hafen hörten wir zufällig im Radio, dass aufgrund des starken Ostwinds Fähren ausfielen – man solle sich erkundigen. Interessant, dachte ich, so etwas gibt es? Sind wohl die Ostseehäfen betroffen. Eine leise Irritation blieb und sorgte für den Griff zum i-phone. Auch Juist war auf dem Wasserweg nicht zu erreichen. Vielleicht auf dem Luftweg? Alle Flüge ausgebucht, bis Montag Nachmittag. 800 Passagiere im Fährhafen gestrandet. Was tun? Wir waren so schlau, weit weg von der Küste zu bleiben und so klug, im Internet nach einem familienfreundlichen Hotel zu schauen. Ein Bauernhof mit Jugendherbergscharakter nahm uns Gestrandete auf, Hannah stürzte sich auf ein Schaukelpferd und wir uns auf unsere mitgebrachten Lebensmittel. Dazu sollten wir ebenso am nächsten Tag Gelegenheit bekommen.

Denn auch für Sonntag, auch beim 83. Mal Nachschauen, standen bei den geplanten Abfahrtszeiten der Fähren nur diese, inzwischen wohlbekannten Zeichen im Internet: XXX. Immerhin, die beiden Schiffstermine am Montag waren mit ??? versehen. Ganz früh machten wir uns also am nächsten Morgen auf den Weg – und mit uns Hunderte … Wir hatten Glück, wir erwischten die Fähre, es sollte erst mal die einzige bleiben. Die am späten Nachmittag legte zwar ab, blieb aber im Niedrigwasser stecken, musste umkehren und viele Leute verbrachten die Nacht an Bord, versorgt mit dem Nötigsten vom Roten Kreuz, andere versuchten ihr Glück wieder in den hoffnungslos überfüllten Hotels oder fuhren völlig entnervt endgültig heim.

Montag, 11 Uhr: Geschafft, auf der Insel! Zwar mussten zwischen Fähre und Kutsche erneut Erwartungen korrigiert werden, aber hinter dem Ferienhaus, geschützt von der Düne, da könnte man doch bestimmt … Nix konnte man, der Wind war so stark und so eisig, dass an Draußensitzen nicht zu denken war, und der Aufenthalt am Strand sich auf zweimal fünf Minuten beschränkte. Eine zierliche Zweijährige durfte man nicht von der Hand lassen – wollte man es sie nicht dem fliegenden Robert gleichtun lassen. Tja, viel haben wir von der Insel nicht gesehen.

Es war trotzdem eine schöne Woche, das Enkelkind war der Sonnenschein, das Miteinander war unkompliziert, das bisschen frische Luft hat gut getan. Ich liebe kleine Mitbringsel, die mich dann später an diesen Urlaub erinnern – es kam nicht dazu – das einzige, was ich mir mitgebracht habe, war eine neue, heftige Erkältung. Vergessen werde ich diesen Urlaub bestimmt nicht!

„Michel Petrucciani – Leben gegen die Zeit“, Film von Michael Radford

Michel Petrucciani: Noch nicht mal einen Meter groß, schwer krank, aber sprühend vor Tatkraft und Kreativität, das reinste Energiebündel. Der Doku-Film erzählt die Geschichte des französischen Jazz-Pianisten Petrucciani, eines genialen Musikers. Mit Rückblenden in die Kindheit und Jugend werden wir schnell ins Bild gesetzt über die schwere Glasknochen-Krankheit des Protagonisten, seine körperliche Behinderung (er ist nur knapp einen Meter groß und kann lange selber nicht gehen, wird immerzu getragen) und über seine geringe Lebenserwartung. Über all das setzt Petrucciani sich mit unglaublicher Energie hinweg, widmet sein Leben der Musik. Mit siebzehn Jahren bricht er auf, um Amerika zu erobern, schafft es tatsächlich, bei Blue Note unter Vertrag genommen zu werden und im legendären Jazzclub Village Vanguard mit einschlägigen Musikgrößen aufzutreten. Wenn er am Klavier sitzt, wirkt er wie entfesselt, spielt mit unglaublicher Leidenschaft und Rasanz, kaum zu glauben, dass er immer Gefahr lief, sich etwas zu brechen, was auch mehrmals passierte. Es kümmert ihn nicht, er lebt gegen die Uhr  (versinnbildlicht durch die immer wieder eingeblendeten, vorrückenden Uhrzeiger).

Im Film kommen verschiedene Weggefährten zu Wort, natürlich auch seine drei Frauen. Petrucciani hat nichts anbrennen lassen, nichts ausgelassen, gegen den Rat der Ärzte sogar ein Kind in die Welt gesetzt. Mitleid war das letzte, was er wollte. Aber wir sehen auch einen von sich sehr überzeugten Menschen, der es seiner Umwelt nicht immer ganz leicht machte – man ist versucht zu sagen, typisch Genie. Als er mit 36 Jahren stirbt, wirkt er viel älter, er hat alles in sein kurzes Leben gepackt, was hineinzupacken war, keine Sekunde seines Lebens vergeudet.

Die Musikszenen sind mitreißend, der Film hat in mir die unbändige Lust geweckt, wieder mehr Jazz zu hören. Doch auch wer diese Musikrichtung nicht unbedingt favorisiert, wird sich der elektrisierenden Aura dieses ungewöhnlichen Menschen nicht entziehen können.

„Vergiss mein nicht“, Film von David Sieveking

Ein Sohn (Regisseur David Sieveking) macht einen Film über seine an Alzheimer erkrankte Mutter und steht dabei sowohl vor als auch hinter der Kamera. Ein mutiges Unterfangen, das den Zuschauer auch ganz schön fordert.

Ich habe ein bisschen gebraucht, bis ich mich an die Stimme des Regisseurs Sieveking gewöhnt hatte und an das etwas Laienhafte der ersten Szenen. Dann hat es mich aber gepackt. Der Sohn fährt zu seinen Eltern nach Bad Homburg und übernimmt dort eine Zeitlang die Pflege seiner demenzkranken Mutter, um seinen Vater zu entlasten, der sie seit zwei Jahren betreut. Wir erleben, wie mühsam und anstrengend die Tage für den Sohn sind, wir sind dabei, wenn er mit seiner Mutter zusammensitzt und sie über alte Fotos reden, und wir beobachten gebannt, wie er versucht, sie zu etwas mehr Aktivität zu bewegen. Wir sehen auf den Fotos eine wunderschöne, politisch aktive Frau in jungen Jahren, die sich mit ihrem Mann an einer offenen Ehe versucht, was nicht ohne gegenseitige Blessuren abgeht. Aber die Ehe hat gehalten, beileibe keine Selbstverständlichkeit in der 68er Generation. Und nun widmet dieser Mann (Malte, der Vater des Filmemachers) seiner 73-jährigen Ehefrau, die langsam ihr Gedächtnis verliert, all seine Zeit und Kraft. Das ist liebevoll, warmherzig, berührend zu sehen. Es gibt auch durchaus lustige Momente. (Der Sohn ruft der aus dem Bild marschierenden Mutter zu „Gretel, wo gehst du denn hin?“ und sie antwortet „Keine Ahnung.“) Diese Szenen bewahren den Film davor, Betroffenheitskino zu werden, und sie tun dem Zuschauer gut – auch wenn es manchmal ein hauchdünner Grat zu peinlicher Berührtheit ist.

Der wiederholte Schnitt von den überaus schönen, klaren Zügen der Mutter als junge Frau, hin zu den verhärmten, verwaschenen Zügen der Demenzkranken, tut weh. Umso wohltuender ist es, das Antlitz mit zunehmender Dauer des Films – was letztlich bedeutet mit zunehmender Nähe zum Tod – als immer klarer und konturierter, geradezu leuchtend, zu erleben.

Mich würde interessieren, was jemand, der näher in Kontakt ist mit Alzheimerkranken, zu diesem Film sagt. Hat es eine Bedeutung, dass die Mutter über weite Strecken die Augen so fest geschlossen hält? Kommentare also ausdrücklich erbeten!

Früher in Rente – die FAZ fragt nach dem Warum, hier kommt eine Antwort

Funk, Fernsehen und Presse berichten in diesen Tagen, dass der Anteil der Frührentner in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist – lag er 2005 bei 41,2 %, so betrug er 2011 schon 48,2 % (Quelle FAZ, 1.2.2013). Die FAZ fragt nach dem Warum. Im Wirtschaftsteil schreibt die Zeitung, dass es „keine wissenschaftlichen Untersuchungen zu den Motiven für einen vorzeitigen Ruhestand“ gibt, im Leitartikel zum selben Thema wird behauptet „die Frage (…) ist den Rentnern erstaunlicherweise noch nie gestellt worden.“ Wirklich?

Auch ich habe viel früher als ursprünglich beabsichtigt den Job verlassen, und so drängt es mich, das zu  kommentieren.

Als erstes fällt mir dazu ein, dass just in dieser Woche durch die Medien ging, dass immer mehr Deutsche Stress am Arbeitsplatz haben, jeder zweite klagt darüber! Das ist doch schon mal eine handfeste Erklärung: Immer weniger Menschen sind bereit, diesen ständigen Druck im Job auszuhalten, und immer mehr Menschen merken, dass es noch andere Dinge im Leben gibt als (fremdbestimmt) Arbeiten  – so erfüllend ein Berufsleben auch sein kann.

Ich bin seit drei Jahren im Ruhestand, und jeden Tag aufs neue freue ich mich, dass ich dem aufreibenden Job mit sechzig Jahren Ade gesagt habe. Ich wollte nicht völlig abgenudelt in diese letzte Zeitspanne eintreten, damit mir noch genügend Kraft und Energie bleibt, sie sinnvoll zu nutzen. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Möglichkeit dazu habe – wohl dem, der es sich leisten kann. Was mir seinerzeit bei der Entscheidung geholfen hat:

Auf einem Seminar wurden wir aufgefordert, die uns statistisch verbleibende Lebenszeit in Tagen auszurechnen (Ausgangswert ist die durchschnittliche Lebenserwartung minus aktuelles Lebensalter, die Differenz ist der persönliche Wert), so simpel und so erhellend! Seinerzeit waren es bei mir knapp 8000 Tage. Als ich mir überlegt habe, WIE schnell die Tage, Monate, Jahre verfliegen, habe ich mich erschrocken, und mir wurde erstmals richtig klar, dass meine Zeit endlich ist.

Im FAZ-Artikel gibt es einen erhellenden Satz: „(…) Vielmehr nähmen viele Menschen nach individueller Abwägung von Kosten und Nutzen die Abschläge bewusst in Kauf.“ Wohl wahr! Die Kosten: Geld ist nicht alles, der Nutzen: eindeutig – Druck gegen Freiheit und Selbstbestimmung. Zeit! Gibt es etwas Kostbareres? Ein ganzes Füllhorn von Möglichkeiten eröffnet sich …

WIE man seine Zeit nutzt, das ist aber ein Thema für sich – Rödeln oder Ruhen, das ist die Frage, dazu ein anderes Mal mehr.

„Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“, Film von Ang Lee

Noch nie einen Film in 3D gesehen? Dann ist Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger, ein hervorragender Anlass, das mal auszuprobieren. Davon unabhängig ist es ein sehr schöner Film, eine verrückte Geschichte, die auf dem gleichnamigen Buch basiert.

Pi verlässt mit seiner Familie, sowie den Tieren aus dem Privatzoo, seine Heimat in Indien, um nach Kanada auszuwandern. Auf der Überfahrt sinkt das Schiff, und auf einmal findet sich Pi mitten im Ozean mutterseelenallein in einem Rettungsboot wieder, halt, nicht ganz allein, sondern gemeinsam mit Richard Parker – einem 200 kg schweren Tiger! Ein verrückter Kampf ums Überleben beginnt: ein halbwüchsiger Bengel gegen eine ausgewachsene Bestie. Wie sich die beiden ungleichen Partner beäugen, belauern und umkreisen, das ist spannend, komisch, irrwitzig, berührend und  zutiefst menschlich – einfach großartig. Irgendwann begreift Pi, dass es der Tiger ist, der ihn am Leben hält; die Sorge um Richard Parker füllt seine Tage und gibt dem Überlebenskampf Sinn.

Wim Wenders hat nach der Premiere gesagt: „Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, ich bin auf dem Meer, ich sitze mit Pi in diesem Boot.“ Und so ist es auch, wir erleben sie hautnah mit, diese monatelange Odyssee, in phantastischen 3D-Bildern von berückender Schönheit.

 

„Das Lügenhaus“, „Einsiedlerkrebse“, „Hitzewelle“– Trilogie von Anne B. Ragde

Ach, ich beneide jeden, der diese drei Bücher noch nicht gelesen hat. Im Zentrum der Geschichte steht eine Familie, die in Trondheim einen Bauernhof besitzt und ein düsteres Geheimnis mit sich herumträgt, das beim Tod der Mutter zutage tritt.

Die handelnden Charaktere, drei ungleiche Brüder und die uneheliche Tochter des einen, sind ungewöhnlich bis skurril, allesamt wachsen sie einem in Windeseile ans Herz. Da gibt es den schwulen Schöngeist Erlend mit seinem Lebenspartner, dem kugelrunden Krumme, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, Margido, den alleinstehenden, leidenschaftlichen Leichenbestatter, und den mundfaulen Schweinezüchter Torben mit seiner lange verheimlichten Tochter Torunn. Zu gerne würde er dieser einmal den Hof übergeben, ein Anspruch, der Torunn total überfordert, zumal sie ihren Vater ja erst vor kurzem kennengelernt hat und in Oslo lebt. Dieser Druck auf Torunn ist der traurigste Teil der Geschichte. Szenen des luxuriösen Schwulen-Haushalts in Kopenhagen wiederum sind zum Totlachen, ohne dass damit die beiden Männer bloßgestellt würden.

Mit liebevollem Blick auf menschliche Unzugänglichkeiten, alltägliche Schwierigkeiten und existentielle Lebensfragen zeichnet die Autorin das Porträt dieser etwas abgedrehten Familie. Selbst die Schweine schließt man ins Herz, sieht sie vor sich mit ihren „blauen Augen unter den kreideweißen Wimpern“ und ihren unterschiedlichen Naturellen. Das alles ist oft witzig und herzerwärmend, manchmal auch schwermütig und dunkel, aber immer zutiefst menschlich. Die Sprache zeichnet sich durch ungewöhnliche und originelle Beschreibungen und Bilder aus. Die Geschichte ist mitten aus dem prallen Leben und man wünscht sich, sie möge nie aufhören.

„Langsamer Abschied“, Roman von Irina Korschunow

Der Plot ist schnell erzählt: Der Mann der Ich-Erzählerin hat einen Unfall und fällt ins Koma. Kurz vorher hat es einen heftigen Streit gegeben, in dem der Mann offenbart, dass er eine lang verheimlichte Tochter hat, besonders bitter, da das Ehepaar gemeinsam keine Kinder bekommen kann. Der behandelnde Arzt verliebt sich in die Protagonistin, es dauert aber sehr lange, bis sie ihn in ihr Leben lässt.

Das Paar erlebt den Alptraum schlechthin, von einer Sekunde zur anderen ändert sich das Leben vollständig, nichts ist mehr wie es war. Die berührende Geschichte setzt mit der Beerdigung des Verunglückten ein und entblättert Stück für Stück die ganze Tragik des vergeblichen Kinderwunsches, der zur Obsession für die Frau wird und die große und lange Liebe zwischen den Ehepartnern auf eine harte Probe stellt. In einer für die Autorin typischen Sprache – knapp, fast lakonisch  („Utopisch offenbar, beides zu verlangen.“) wird beschrieben, wie sich die Erzählerin mit Selbstvorwürfen quält und gleichzeitig versucht, sich mit den neuen Gegebenheiten und ihren eigenen Ansprüchen an das Leben auseinanderzusetzen. Sehr überzeugend, sehr bewegend.

„Lincoln“ – Film von Steven Spielberg

Hollywood-Produktionen schauen wir uns eher selten an, uns reizen mehr die kleineren Produktionen, die nicht so im Mainstream sind. Aber den Film Lincoln wollte ich unbedingt sehen, nicht zuletzt auch, um mehr über den 16. Präsidenten der USA zu erfahren, unter dem die Sklaverei abgeschafft wurde und den Barack Obama als sein Vorbild nennt.

Leichte Kost ist das nicht. Die teilweise ermüdend langen Redepassagen und die darin verhandelten Inhalte erfordern viel Geduld und volle Konzentration. Zum Glück hatte ich vorher eine Besprechung des Films gelesen, so habe ich wenigstens ansatzweise verstanden, um was es geht. Lincoln will beides, den Frieden zwischen den im Krieg liegenden Süd- und Nordstaaten UND die Abschaffung der Sklaverei. Warum er deshalb den Frieden erst einmal aufhalten muss, fand ich im Film schwierig nach zu vollziehen. Aber nur so war es möglich, den 13. Verfassungszusatz, die Abschaffung der Sklaverei, durch den Kongress zu bringen. Lincoln hat ein kleines Zeitfenster, wie wir heute so schön sagen, und er nutzt es. Der Erfolg gibt ihm recht. Er zahlt einen hohen Preis dafür. Ohne Betrug, List und Tücke wäre das nicht möglich gewesen, die fehlenden Stimmen werden mit allen Tricks und Finessen errungen. In dem Fall heiligt der Zweck unbestritten die Mittel, es geht um Großes. Aber man kann sich lebhaft vorstellen, wie auch für weniger Sinnvolles und Bedeutendes heutzutage gekungelt, geschoben, betrogen und bestochen wird – überall auf der Welt. Es ist das alte Spiel um Macht und Moral.

So taucht man einesteils ganz tief in die Lincoln-Ära ein (auch dank eines großartigen Daniel Day-Lewis), andererseits ist man viel in den heutigen Vereinigten Staaten, denkt an die Gesundheitsreform, die Obama unter so großen Schwierigkeiten durchgebracht hat, und die ständige gegenseitige Blockade von Republikanern und Demokraten. Dieser Bogen ist es, der mich fasziniert hat. Insofern lautet mein Urteil: unbedingt empfehlenswert!

„Letzte“ Reise, Roman von Anna Enquist

Der Roman beschreibt das Leben von Elizabeth Cook, Frau des berühmten Entdeckers James Cook. Hat man den Klappentext vorher gelesen, so weiß man genau, was einen an Fakten erwartet: Elizabeth lebt im ständigen Wartestand und muss hinnehmen, dass ihr Mann entgegen seinen Versprechungen auch noch zu einer dritten Entdeckungsreise aufbrechen wird, von der er nicht zurückkehrt. Ebenso weiß man vorher, dass sie ihre sechs Kinder überleben wird.

Man könnte also sagen, die Spannung hält sich in Grenzen. Aber WIE dieses Frauenschicksal beschrieben ist, wie Elizabeth hofft, wartet, zweifelt, sich arrangiert („Ich muss mich freuen, dachte sie, das gehört sich so.“), und – besonders berührend, wie ihre lebenslange Sehnsucht nach ihrer einzigen Tochter geschildert wird, das ist einfach großartig. Die Sprache ist pointiert, spröde und kühl und transportiert doch unglaublich nachvollziehbar die tiefen Gefühle.

Tief taucht man in das 18. Jahrhundert ein, erfährt natürlich auch viel über die Entdeckungsreisen von Cook, verfolgt, mit welcher Hartnäckigkeit Elisabeth auf der Klärung der Umstände seines Todes beharrt. Am meisten berührt hat mich aber immer wieder aufs neue die Beschreibung ihrer widerstreitenden Gefühle: „Sie schwieg. Ein Monat. Das Haus würde sich plötzlich zu klein anfühlen, als passte es nicht. Ein großer Körper würde neben ihr im Bett liegen, die Nacht von unvermitteltem Knarren und Schnarchen erfüllt sein. Sie würde ihm gegenüber sitzen. Zögernd würden sie anfangen, ihre Geschichten zu erzählen, du zuerst, nein, lieber erst du.“

Nicht nur wer gerne Frauenbiografien liest, wird mit diesem Buch wunderbare Stunden verbringen.