„Rubinrotes Herz, eisblaue See“, von Morgan Callan Rogers

Anrührend, witzig, tragisch, ergreifend, spannend – was lässt sich Besseres über einen (Unterhaltungs-)Roman sagen? Das Buch erzählt die Geschichte der elfjährigen Florine, die mit ihrer Familie ein unbeschwertes Leben in einem Fischerdorf an der Küste von Maine führt. Doch dann verschwindet ihre Mutter Carlie spurlos, und von jetzt auf gleich ist nichts mehr, wie es war. Man bangt und hofft mit Florine, begleitet sie bei ihren Nachforschungen und leidet mit ihr, wenn wieder einmal eine Spur ins Leere führt. Um sie herum kehren alle nach und nach in den Alltag zurück, doch Florine wehrt sich nach Kräften dagegen.
Die Jahre vergehen, Florine wird langsam erwachsen, mit allem, was dazugehört. Sie muss noch mehr Schicksalsschläge verkraften, aber am Ende gewinnt sie auch etwas sehr Kostbares. Das ist mit so viel Humor, Menschlichkeit und Einfühlsamkeit beschrieben, dass es einem ganz warm ums Herz wird. Alle Charaktere sind stark und differenziert gezeichnet. Ich fühlte mich ruckzuck als Teil der kleinen Dorfgemeinschaft im wunderschönen Neuengland.

Und die Bilder, die die Autorin findet, sind einfach umwerfend:
„… mit einer Stimme, die so tief war, dass sie über den Boden zu schleifen schien.“
„Weil meine Augen sich anfühlten, als hätte jemand Ziegelsteine draufgelegt.“
„Meine Gedanken rutschten durcheinander wie Pantoffeln auf gebohnerten Dielen.“
„Als sie hinausging, färbte sich ihr Kielwasser schwarz, dann mischten sich Grau- und Weißtöne darunter.“
„Nadelspitze Türme“, „schneespitzige Berge“, „katzenbucklige Inseln.“

Drei Jahre ist es her, dass ich den zauberhaften (Entwicklungs-)Roman über Florine gelesen und genossen habe. Der Titel wurde ein Bestseller in Deutschland. Jetzt ist eine Fortsetzung erschienen. Da drängt sich sofort die Frage auf, kann das gut gehen? Ist Florines Geschichte nicht auserzählt? Hat die Autorin nur dem Drängen des Verlags nachgegeben, der erneut gute Absatzzahlen witterte?
Der Nachfolgeband heißt „Eisblaue See, endloser Himmel.“ Ich lese ihn gerade und werde berichten …

„Aller Liebe Anfang“, von Judith Hermann

Hoch gelobt, viel dekoriert – ein Buch von Judith Hermann liest man nicht einfach mal so. Ich lese es mit Respekt, Ehrfurcht – und da ich mich inzwischen selber schriftstellerisch versuche, mit einer gewissen Beklommenheit. Thema des Romans ist die Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit des Glücks. Die Hauptperson Stella, Ehefrau und Mutter einer Tochter, die mit ihrer kleinen Familie ein alltägliches, zufriedenes Leben in einem Vorort führt, wird gestalkt. Von einem Mister Pfister; für mich ein genialer Name, fast lächerlich, konkret und doch anonym, scharf und spitz, mit der Assoziation „finster“.

Die Autorin stellt Fragen, die sie geschickt mit der sich langsam entwickelnden Stalking-Geschichte verknüpft – warum haben wir uns festgelegt – auf den einen Mann, auf Kinder, auf dieses eine Leben? Lange Zeit bleibt etwas in der Schwebe, warum ist Stella so unentschlossen, ambivalent Mister Pfister gegenüber, ärgert sich fast, als er sie im Supermarkt bei der ersten persönlichen Begegnung ignoriert? Welche Lücke füllt er in ihrem Leben, welchem Sehnen gibt er Nahrung?

Dann zieht sich die Schlinge zu, erst unmerklich, dann Schlag auf Schlag. Mehrere kurze Kapitel hintereinander erhöhen das Tempo, als retardierendes Moment wird die friedlich im Sandkasten spielende Tochter dazwischengeschoben, aber es vermag einen nicht wirklich zu beruhigen, zumal am Ende dieses superkurzen Kapitels die Falle endgültig zuschlägt; man hängt am Haken, und Stella nun eindeutig auch.

Die Sprache ist zart und fein, deutet vieles nur an, aber sie ist auch genau und unerbittlich. Nach der beschriebenen Zuspitzung des Konflikts wird die Person des Mister Pfister konkreter. Stella stellt sich vor, wie er aufwacht, wie er wohnt, lebt und verworrenes Zeug denkt. Sie besucht ihn. Wie wird das enden? Das ist durchaus spannend, und es treibt mich, weiter zu lesen. Aber immer wieder gibt es Passagen, die ich eigentlich langsamer lesen möchte, zum Beispiel, wenn Stella (sie ist Altenpflegerin) bei ihren eigenwilligen Patienten ist. Es ist kein Buch für die überfüllte S-Bahn; es verdient konzentriertes Lesen mit Raum zum wirken lassen. Dann ist es eine sehr lohnende Lektüre.

„Seit jenem Moment“, von Renate Ahrens

Mein drittes Buch von dieser Autorin. Sie hat es wieder geschafft hat, mich nach anfänglichen Irritationen hineinzuziehen. Die ersten Seiten fand ich aufgrund der etwas verwirrenden Familienverhältnisse nicht einfach zu lesen. Außerdem störte es mich ziemlich schnell, dass bei fast jedem Gespräch (und es gibt viele Dialoge!) so ausufernd Auslassungspünktchen auftauchen …

Aber die Geschichte ist wieder gut. Paula, eine junge Frau aus Hamburg gerät in eine Krise, weil ihr Vater einen Selbstmordversuch verübt hat und sie im Zuge dessen auf ein Tabu in ihrer Herkunftsfamilie stößt. Alle Familienmitglieder tragen schwer an dieser Last, jeder auf eine andere Art: Die Protagonistin, eine Malerin, gerät in eine schwere Schaffenskrise, ihr Vater ist sprachlos und unzugänglich, ihre Tante hat sich nach Irland geflüchtet. Im krassen Gegensatz dazu steht die Familie von Paulas Freund Jakob, alle sind herzlich und zugewandt. Mehr möchte ich vom Inhalt nicht verraten.

Es ist sicherlich ein Thema, das man weitaus üppiger, ausgefeilter hätte darstellen können, aber Renate Ahrens gelingt es in ihrer markanten, knappen Sprache dennoch, mich in die Geschichte dieser Familie zu verwickeln und mit ihr zu hoffen, dass die Dinge sich zum Guten wenden.

„Nur eine böse Tat“, von Elizabeth George

Sie ist einfach die Beste! Ich lese inzwischen kaum noch Krimis, die meisten sind mir zu blutig – aber die neue George ist wieder einmal ein Genuss von der ersten bis zur letzten Seite. Wie sie es schafft, die Spannung hochzuhalten (auf immerhin 862 Seiten), ist unglaublich. Über weite Strecken geht es noch nicht einmal um Mord und Totschlag, sondern um berufliche Harakiri-Aktionen von Barbara Havers und das langsam wieder erblühende Privatleben (nach dem Mord an seiner Frau Helen) von Thomas Lynley. Das kann sich nur ein Krimiautor erlauben, der einem die handelnden Personen richtig nahebringt.

Das ungleiche Ermittlerpaar, er adelig, groß, schlank und kultiviert, mit zumindest äußerlich geordnetem Leben, sie klein, stämmig und in jeder Beziehung gegen den Strich gebürstet – ständig dabei, sich von einer Bredouille in die nächste zu manövrieren – ist einem über die Jahre extrem ans Herz gewachsen. Meisterhaft schafft George es, uns die beiden und ebenso die Nebenfiguren und das (britische und italienische) Ambiente vor Augen zu führen. Ihre Romane sind akribisch recherchiert, (was auch der Umfang der Danksagungen am Ende des Buches eindrucksvoll belegt), und psychologisch äußerst geschickt aufgebaut. Wer könnte nicht nachvollziehen, wie schnell es doch geht, „nur eine böse Tat“ zu begehen!

Die Geschichte dreht sich um die Entführung der neunjährigen Haddiyah; das Mädchen wird zum Spielball der Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern und weiteren ihr nahestehenden Erwachsenen. Barbara Havers liegt das Kind ganz besonders am Herzen, ist sie doch die Tochter ihres Nachbarn und Freund (oder mehr?) Azhar. Um das Mädchen zu finden, setzt sie alle Hebel in Bewegung, koste es, was es wolle …

Auch meisterhaft von George: sie schafft es jedes Mal, Spuren zu legen, die einen ungeduldig ihren nächsten Roman erwarten lassen.

Kürzlich hatte ich mal die Idee einer Gegenüberstellung: Elizabeth George vs. Nele Neuhaus, zwei überaus erfolgreiche Autorinnen und ihr Erfolgsgeheimnis. Wie werden Personen beschrieben, wie wird man ins Geschehen gezogen, wie verläuft der Spannungsbogen? Nach der Lektüre des aktuellen George-Titels habe ich mich davon verabschiedet – zu groß ist der Klassenunterschied – wen ich für besser halte, dürfte ja wohl keine Frage sein …

 

 

„Der Circle“, von Dave Eggers

Eigentlich wollte ich dieses Buch nicht lesen. Facebook und Twitter interessieren mich nicht, meine Nutzung der digitalen Medien hält sich in überschaubaren Grenzen. Von Vernetzungswahn, dem Thema des Buches, bin ich meilenweit entfernt. Soweit die Theorie. Nach der Lektüre des „Circle“ sehe ich das alles ein wenig anders. Habe ich nicht schon öfters Google erlaubt, meinen aktuellen Standort zu verwenden? Bekomme ich nicht passgenaue Werbung und eine auf mich abgestimmte Ergebnisliste beim Suchen? Kann ich nicht bei WhatsApp sehen, ob und wann mein Gesprächspartner online ist?

Der Inhalt:

Die 24-jährige Mae ist überglücklich, als sie einen Job beim coolsten Unternehmen der Welt ergattert, beim Circle, einem IT-Unternehmen in Kalifornien, das seinen Mitarbeitern alles bietet, wovon man nur träumen kann: tolle Büros, kostenlose Gourmet-Mahlzeiten, Konzerte von angesagten Popstars auf dem Firmen-Campus und vieles mehr. Der Circle hat sich auf die Fahne geschrieben, alle Mitglieder mit einer einzigen Internet-Identität auszustatten. Keine unterschiedlichen Namen mehr für unterschiedliche Dienste, keine kompliziert zu merkenden Codes. Ständig erfindet oder kauft der Circle neue Programme, die den Menschen das Leben erleichtern sollen. Wichtigstes Ziel: alle sollen transparent sein, denn fördert es nicht in jedem Menschen nur das beste zutage, wenn er sich ständig beobachtet weiß? Vieles, was der Circle propagiert, klingt auf den ersten Blick einleuchtend, praktisch und sinnvoll. Wollten wir nicht immer schon wissen, was unsere Politiker so treiben? Wie es unserer alten, gebrechlichen Mutter geht, die wir viel zu selten besuchen können? Was unsere Kinder machen, ob sie in Sicherheit sind?

Doch wie ein gefräßiger Hai verleibt der Circle sich nach und nach alles Leben um sich herum ein, beraubt seine Anhänger jeglicher Privatsphäre, versklavt sie täglich mehr. Und sie folgen bedingungslos, blind, begeistert.

Wird Mae rechtzeitig zur Besinnung kommen? Werden WIR merken, wenn Grenzen überschritten werden und points of no return erreicht werden?

„Der Circle“ ist ein kühler, amerikanischer Roman, der sich gut weg liest. Er hinterlässt den Leser sehr, sehr nachdenklich und um einiges wachsamer als zuvor.

„Das große Los. Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr“, von Meike Winnemuth

Ein Jahr unterwegs: Zwölf Städte in zwölf Monaten. Nicht im Hotel, sondern in möblierten Wohnungen unterkommen, einfach mitlaufen, mitleben: Es ist also nicht die klassische Weltreise, die Winnemuth unternimmt, zumal sie als freie Journalistin unterwegs weiterarbeitet. Alle Städte erschließt sie sich mit ständigem Spazierengehen, verzichtet meist auf die klassischen Sehenswürdigkeiten.

Es ist ein sehr persönlicher, sehr emotionaler und sehr inspirierender Bericht, der einem Lust auf die große, weite Welt macht, selbst mir – ich bin nicht unbedingt eine Reisetante. Aus jeder Stadt schreibt sie einen Brief an unterschiedliche Freunde, aus Kopenhagen einen an sich selbst, ihr jüngeres Ich. Das ist mir dann fast ein bisschen viel Nabelschau. Jedes Kapitel endet mit einer Aufzählung von zehn Dingen, die Winnemuth in der jeweiligen Stadt gelernt hat, das Buch endet mit zehn Tipps für zukünftige Weltreisende.

Unterwegs bekommt man ein gutes Bild von den Städten: „Shanghai wächst wie Bambus.“ „Ich möchte fast wetten, dass Mumbai, die verdammte Nervensäge, am Ende dieses Jahres die tiefsten Spuren in mich hineingefräst haben wird.“ „Es gibt keinen besseren Ort als London, um auf einen Schlag die gesamte Menschheit zu besichtigen.“ Ihre letzte Strecke: Kuba – Hamburg legt sie auf einem Frachtschiff zurück, eine gute Idee, weil es ihr ein langsames Heimkommen ermöglicht.

Auch über ihr Leben „danach“ verliert sie ein paar Worte: der erste Tag, die erste Woche, der erste Monat, das erste Jahr wieder in Hamburg. Dass die Rückkehr ins normale Leben nicht ganz einfach ist, das kann man sich nach dieser Lektüre gut vorstellen.

„Glückskind“, von Steven Uhly

Dieser kleine Roman ist ein Glücksfall. Er erzählt die Geschichte von Hans, einem älteren Mann, der ein Baby im Müll findet und es zu sich nimmt. (Im Buch heißt es anfangs „ein alter Mann“ – das widerstrebt mir, er ist doch erst 59 Jahre alt!)

Das Baby stellt das Leben von Hans total auf den Kopf. Eben noch Messie und völlig aus der Spur geraten, bringt die neue Verantwortung Hans dazu, sich aus seiner Lethargie zu befreien, sein völlig vernachlässigtes Äußeres zu pflegen und freundschaftliche Beziehungen zu bisher sorgsam gemiedenen Nachbarn einzugehen. Hans lebt auf und klammert sich an sein Glück in Gestalt eines kleinen Mädchens wie ein Ertrinkender – aber muss sich doch der Realität stellen. Denn dieses Kind hat ja bereits eine Familie, es gibt eine Mutter, die es in den Müll gelegt hat, einen Vater, Geschwister. Und es gibt einen Rechtsstaat mit seinen Behörden, die natürlich alles daran setzen, die Dinge in die vorgesehene Ordnung zu bringen.

Parallel zu dem berührenden Prozess von Hans’ Entscheidungsfindung wird enthüllt, wie es so weit kommen konnte in seinem Leben, wie er aus allen Bezügen kippen konnte und kurz davor war, völlig abzudriften. Mit einfacher, aber eindringlicher Sprache schildert Uhly die Geschichte von Felizia, dem Glückskind, und Hans, dem behausten Penner:

„Vor ihm tut sich ein Tunnel auf, der in die Zukunft führt. Er ist voller Kleidung, Bettzeug und Handtücher, die regelmäßig gewaschen, getrocknet und verstaut werden müssen, voller Böden, die jede Woche geputzt sein wollen, voller Müll, der nichts in der Wohnung zu suchen hat, den er regelmäßig hinunterbringen muss, voller Teller, Tassen, Gabeln, Messer, Löffel, die sich nicht selbst spülen. Der Tunnel ist so voll von diesen Dingen, das kaum  …“

Ich habe mitgefiebert, wie wird Hans sich entscheiden? Was geschieht mit der (geständigen) Mutter? Wird Hans’ Leben in der neu gefundenen Spur bleiben oder wieder aus der Kurve fliegen?

 

„Wir sind doch Schwestern“, von Anne Gesthuysen

Die Autorin Anne Gesthuysen ist nicht nur ARD-Morgenmagazin-Moderatorin, sondern auch Ehefrau von Frank Plasberg und somit „Promi.“ Sie hat ihren ersten Roman geschrieben; er ist fiktiv, beruht aber auf den Erinnerungen, Erzählungen und Anekdoten ihrer drei Großtanten.

Es geht um Schwesternliebe und um ein Leben auf dem Land, am Niederrhein im vorigen Jahrhundert. (Ich hatte Freude an ein paar plattdeutschen Kraftausdrücken, z.B. „du bis enne Prootsack“, sinngemäß etwa: „du bist gemein“. Aber man muss nicht vom Niederrhein stammen, um das Buch zu verstehen!)

Die Geschichten der drei Schwestern sind natürlich miteinander verwoben, die der ältesten und der jüngsten auf besondere Art und Weise. Die Handlung setzt mit den Vorbereitungen für Gertruds hundertsten Geburtstag ein. Katty, die jüngste mit ihren vierundachtzig, plant und organisiert das Fest in gewohnt professioneller Art und Weise, eine ihrer größten Stärken, von der einst auch die Liebe ihres Lebens profitierte. Unerreichbar war er für sie, der bedeutende CDU-Politiker und Landtagsabgeordnete. Aber eigentlich ist das nur die halbe Wahrheit!

Immer wieder lässt Gesthuysen ihre Protagonistinnen zurückschauen und sich erinnern. Jedes der drei Frauenleben ist auf seine Art bunt und bewegt, auf jeden Fall nicht stromlinienförmig. Die Lebenslust, die alle drei im hohen Alter immer noch ungebrochen ausstrahlen, hat etwas Ansteckendes. Die Geschichte plätschert über weite Teile dahin, wirklich Fahrt nimmt sie erst gegen Ende auf. Aber sie ist nett zu lesen. Wenn vom Elf-Ührken die Rede ist, (ein Schnäpschen, das man sich zwischendurch mal genehmigt, um besser durch den Tag zu kommen), oder von einem in Flagranti ertappten Paar („die Hosen an Knöcheln und Kniekehlen allerdings verhinderten einen koordinierten Abgang“), so muss man bei aller durchaus vorhandenen Tragik immer wieder schmunzeln.

Zwei Weltkriege, die moralingesäuerten fünfziger und sechziger Jahre, Liebe, Lust und Leiden auf dem platten Land, aber auch Gelassenheit und menschliche Größe – man lässt sich gerne entführen in diese drei Frauenleben im 20. Jahrhundert. Von denen eins im 19. Jahrhundert beginnt und erst im 21. endet!

„Das glückliche Buch der a.p.“, von Christine Brückner

Lieblingsbücher begleiten einen ein Leben lang – stimmt das wirklich? Ich habe festgestellt, dass mir einige Bücher, die ich seinerzeit als Lieblingsbücher auserkoren hatte, später nicht mehr so gut gefallen.

Aber bei diesem war es anders: Ich habe es genauso gerne gelesen wie vor vielen Jahren. Obwohl die Form ein bisschen aus der Zeit gefallen ist: Es ist ein Briefroman. Die strenge Definition dieser Gattung besagt, dass es ein vollständig oder zumindest überwiegend aus fiktiven Briefen bestehender Roman ist. Das ist hier nicht der Fall. Denn diese Briefe sind authentisch. Das macht es so besonders, so spannend und so glaubwürdig.

Der Briefwechsel schildert die langsame Annäherung des Schriftstellerpaares Christine Brückner und Otto Heinrich Kühner, ein Prozess, der über rund fünfzehn Jahre läuft, bis beide sich auf das Wagnis einer zweiten Ehe einlassen.

Vorsichtiges Abtasten wechselt ab mit kollegialem Austausch, kokettes Flirten mit brüsker Distanzierung. Ab einem bestimmten Stadium ist klar: beide brennen lichterloh. Aber dann treten die Unterschiede zwischen ihr und ihm hervor. Sie sagt, erst kommt das Leben, dann das Schreiben, bei ihm kommt erst das Schreiben, dann das Leben. Sie ist eine brauchbare Frau für den gelebten Alltag, er der Mann für Trennungen, die ihn die Liebe noch deutlicher spüren lassen. „Ich will ihn für alle Fälle. Ich will die Regel. Er die Ausnahme.“

’Wegfahrer’ nennt sie ihn, ’Nichtsnutz’, ’Vagabund’ – das ist durchaus liebevoll gemeint und doch immer eine Spur bitter, weil er sich ihr ständig entzieht, sich nicht völlig einlässt. Aber sie überwinden alle Klippen und drücken tiefe Freude und Dankbarkeit über das Glück im fortgeschrittenen Alter aus. (Dazu muss man wissen: Beide sind 1921 geboren und gerade mal in ihren Vierzigern!)

Die Briefe sind originell, lebendig, witzig, welthaltig, verzagt, das Leben umspannend – und natürlich sind sie immer geschliffen formuliert, einfach großartig. „Der Oktober novemberte sich zu Ende“, was für ein Bild! Ab und an gibt es Einschübe, Aktennotizen aus offiziellen Schreiben, Urlaubsimpressionen, philosophische Betrachtungen, alle klug formuliert und gut zu lesen, aber am besten gefallen mir die Briefe.

Das Buch gibt es leider nur noch antiquarisch.

„Ferne Tochter“, von Renate Ahrens

Nach „Fremde Schwestern“ habe ich mir gleich das nächste Buch von Renate Ahrens vorgenommen: „Ferne Tochter“. Es ist ja immer ein gewisses Wagnis, wenn man von einem Buch angetan ist und mehr von der Autorin lesen will. Und prompt war ich anfangs nicht so begeistert, dachte, diese Geschichte hat nicht so viel mit meinem Leben zu tun wie die andere, in der ich mich so gut in die ordnungsliebende und planvolle Protagonistin einfühlen konnte, und die siebenjährige Merle mich ständig an meine Enkelinnen denken ließ.

Aber dann war ich zunehmend berührt davon, wie die Ich-Erzählerin Judith nach Jahren bewusster Distanz die Beziehung zu ihrer Mutter wieder aufleben lässt. Ein Anruf aus Deutschland, den sie im fernen Rom erhält, macht ihr klar, dass es dafür höchste Zeit ist. Ohne ihren Mann Francesco, mit dem sie seit Jahren glücklich, aber zu ihrer beider Bedauern, kinderlos verheiratet ist, bricht Judith auf für einen Besuch in Hamburg – im Gepäck ein Geheimnis, das sie jahrelang sorgfältig vor ihrem Partner gehütet hat.

Die Zusammenkünfte mit ihrer kranken Mutter schildert sie schonungslos ehrlich, mit all ihren widersprüchlichen Gefühlen. Dabei wird nach und nach aufgeblättert, was Mutter und Tochter entzweit hat. Der Titel „Ferne Tochter“ ist doppeldeutig. (Ich hätte es nicht verraten, aber der Text der Umschlagklappe weist darauf hin). Es gibt also noch eine Mutter-Tochter-Geschichte, und wie die Autorin diese beiden Geschichten miteinander verknüpft und in einem Bogen am Ende zusammenführt, das ist wirklich sehr gelungen. Und sehr berührend, nur selten treibt mir ein Buch die Tränen in die Augen, hier war es so.

Ein drittes Buch von Renate Ahrens „Seit jenem Moment“ liegt schon hier. Ich möchte es mir ein wenig aufheben, mal eine Pause einlegen von der kargen, nüchternen Schreibweise. Auch wenn sie mir sehr gut gefällt, und sie diese Autorin so besonders macht. Aber der Stil ist so eindringlich, dass ich den Wunsch nach Abwechslung habe. Momentan steht mir der Sinn mehr nach fließenden, weich schwingenden Satzkonstruktionen (à la Zsusza Bánk). Nach zwei, drei anderen Romanen werde ich mich sicher wieder auf Renate Ahrens freuen.