Der Stift und das Papier, von Hanns-Josef Ortheil

„Wer sich für die Kunst des Schreibens interessiert, kommt an diesem wunderbaren Buch nicht vorbei.“ Dieses Zitat ist nicht von mir, könnte es aber sein 😉 Aber es gibt noch mehr Gründe, warum dies ein absolut lesenswertes Buch ist. Ortheil (einer der bedeutendsten deutschen Gegenwartsautoren) schreibt über die schwierigen und zugleich faszinierenden Anfänge seines Schreibens. Da er im Schulalter noch nicht gesprochen hat und zum Versager zu werden drohte, hat sein Vater sich ein kreatives Lernprogramm für ihn ausgedacht und ihn in einer Art Schreibschule selbst unterrichtet.

Ortheil versetzt sich zurück in diese Zeit und erzählt von Aha-Erlebnissen, von ersten Erfolgen und der sich langsam, aber stetig entwickelnden Passion. Er beschreibt die liebevollen und ungewöhnlichen Lehrmethoden des Vaters (später auch die der Mutter), schildert die Bedeutung der von ihm täglich verfassten Chroniken (die er bis heute beibehalten hat!) und entdeckt mit dem Leser gemeinsam die Welt der Sprache, zum Beispiel die Vielfalt der Dialoge – so gibt es neben „Allerweltsdialogen“ auch „Knisterdialoge“ – ein Ausdruck, der mir besonders gut gefällt.

Schreibend sich die Welt zueigen machen – man muss sich ja gar nicht für die Kunst des Schreibens interessieren, um die Wucht dieses faszinierenden Prozesses zu erfassen – es betrifft uns alle und unseren Weg ins Leben. Hier ist dieser Weg auf eine wunderbare Art und Weise beschrieben. Ich ziehe den Hut vor Ortheils Eltern, die ihm diese „Reise“ mit so viel Liebe, Engagement und Kreativität ermöglicht haben.

Wenn man Ortheil mag und wenn man seine Biografie kennt – die Eltern hatten vier seiner älteren Brüder verloren, darüber verstummte die Mutter und damit auch er als einzig verbliebener Sohn – dann geht diese Geschichte einem wirklich unter die Haut. Bei mir hat das Buch bewirkt, dass ich wieder mit einem großformatigen, geschriebenen, bemalten und beklebten Tageskalender (einer Chronik) begonnen habe. Die Tage werden dann „bewusster erlebt“ und jeder Tag wird zu einem „unverwechselbaren und einzigartigen Erlebnis“. Er weiß, wie’s geht, der Herr Ortheil!

 

 

„Warten auf Bojangles“, von Olivier Bourdeaut

Was für ein Kontrastprogramm zum zuletzt hier vorgestellten Buch „Schlafen werden wir später“! 158 Seiten gegenüber 683 Seiten. Kurz, knapp, irreal das eine – langatmig, ausschmückend, realistisch das andere. Zermürbender Alltag gegen Lebensfreude pur. Voller Phantasie und Poesie beide. Bei einem ersten Lektüre-Versuch von „Bojangles“ vor ein paar Monaten hatte ich aufgegeben, ich hatte die Geschichte seinerzeit als zu skurril und abgedreht empfunden. Und jetzt?

Die Geschichte ist nicht nur besonders phantasievoll, sie ist verrückt, voller Lebenslust, voll überschäumender Begeisterung, unbändiger Trauer und  feinem Humor. Erzählt wird, mal aus Sicht des Vaters, mal aus Sicht des Sohnes, über die Ehefrau und Mutter (der der Vater ständig neue Namen gibt). Sie ist krank, das wird schnell klar. Hysterie, Bipolarität, Schizophrenie – so benennen es die Ärzte. Doch die kleine Familie will es nicht hören, nicht wahrhaben, nicht durchdringen lassen in den bisher gelebten Alltag voller Phantasie, Originalität und überschäumender Lebensfreude. Sie greift zu rabiaten Mitteln …

Auch in diesem Buch wird geweint: „Sie zog sich dann zurück und weinte und weinte und konnte gar nicht mehr aufhören, wie wenn man am Berg zu viel Schwung hat – “. „Sie war untröstlich, zwischen ihren Problemen und ihr war kein Fingerbreit für uns, der Platz war uneinnehmbar.“ Das ist kurz und knapp formuliert und geht doch so zu Herzen. Achtung: Das Ende ist unglaublich traurig und doch von einer solch stillen Heiterkeit durchzogen, dass ich erst lächeln und dann sogar lachen musste. Das Lachen blieb mir dann aber doch im Hals stecken. Es ist ein kleines Meisterwerk, dieses Büchlein. Und  typisch französisch.

Ich danke meinem Freund Wolter für diesen Tipp und gebe hiermit seine Anregung weiter, parallel zum Lesen „Mister Bojangles“ zu hören, meiner Meinung nach am schönsten von Sammy Davis Jr. gesungen. Und von mir kommt der Tipp, zunächst weggelegten Büchern zu einem späteren Zeitpunkt noch mal eine Chance zu geben! Und noch ein Tipp: Der Blog Ohrenschmaus hat sich dem Buch „Warten auf Bojangles“ – und natürlich dem Song „Mister Bojangles“ – von der musikalischen Seite genähert – auch lesens- und natürlich hörenswert, hier.

„Schlafen werden wir später“, von Zsuzsa Bánk

Ich habe „Die stillen Tage“ von Zsuzsa Bánk geliebt und war sehr gespannt auf ihren neuen Roman. Ich mochte ihren poetischen Schreibstil, ihre wunderbaren Wortschöpfungen sowie die Stimmung, die sie zu erzeugen vermag – und ihre ungewöhnlichen Figuren. Aber bei der Lektüre von „Schlafen werden wir später“ war ich lange unschlüssig – bewundere ich ihren noch manierierteren, noch elegischeren Sprachstil – oder lehne ich ihn ab? Gefällt mir dieses Buch? Zunächst ein klares „Jein“.

Die Idee ist gut: Ein E-Mail-Wechsel zwischen zwei knapp vierzigjährigen Frauen, die sich gegenseitig um das beneiden, was die andere hat. Martá hat drei kleine Kinder, einen unzuverlässigen Mann und wohnt in der lauten und schmutzigen Stadt Frankfurt; Johanna wurde vor kurzem von ihrem Freund verlassen, sie ist kinderlos und lebt im Schwarzwald. Sie hat gerade eine Brustkrebserkrankung überstanden und kämpft sich durch ihren Alltag als Lehrerin, nebenbei promoviert sie über Annette von Droste-Hülshoff.

Martá wünscht sich nur eins: Zeit und Muße zum Schreiben. Der Alltag mit drei kleinen Kindern und ständige finanzielle Sorgen verhindern das gründlich, und es gibt so gut wie keinen Briefwechsel, in dem sie nicht ausgiebig über ihre Situation jammert. Das Motiv ist bekannt aus der Literatur: Eine durch das Klein-Klein eines zermürbenden Alltags verhinderte Schriftstellerin. Johanna wiederum beklagt ihr Verlassensein, beneidet die Freundin um die Familie und rät ihr immer wieder aufs neue, sich an den süßen Kleinen zu erfreuen. Aber Martá gelingt das nur in wenigen Momenten. (Warum hat sie drei Kinder?) So ist der Ton des Briefwechsels überwiegend weinerlich, trieft stellenweise geradezu vor Selbstmitleid. Ungefähr auf Seite 100 war ich echt bedient.

Dennoch bin ich dran geblieben. Die innige Beziehung der beiden Frauen, dieser grundehrliche Austausch über Befindlichkeiten, das Sinnieren über die Vergänglichkeit des Lebens, das Feiern der Freundschaft – es hat auch etwas Kraftvolles, Tröstendes und auf Dauer immer Vertrauteres. Man taucht tief ein in diese Intimität zwischen Martá und Jo und freut sich mit den beiden, dass sie (wenigstens) sich haben. Jede Frau, die sich glücklich schätzt, eine solch enge Freundin zu haben, wird wissen, was ich meine. Und dass der Alltag oft mühsam ist und der Blick für all das Schöne im Leben ab und an verstellt ist, wer kennt das nicht. Also warum nicht darüber schreiben? Nach diesen Erkenntnissen habe ich gerne weiter gelesen. Und es wird immer besser!

Was aber  stört: Der Schreibstil der beiden Frauen unterscheidet sich nicht voneinander. Es dominiert der Zsuzsa Bánk Stil: Blumige Wortschöpfungen, aufeinander getürmte Adjektive, dreimalige Wiederholungen als wiederkehrendes Stilmittel bei beiden Schreiberinnen – man liest sich zwar ein und es ist sprachlich Schönes und kühn Kreatives darin, aber dennoch ist es für mich oft ein bisschen zu viel. Zu viel Klage, zu viel Weinerliches, zu viel Drama.

Mein Résumée: Wenn man sich darauf einlässt, dass (fast) nichts passiert (was ja grundsätzlich nicht schlecht sein muss), Freude an Bánks phantasievollem Schreibstil hat und durch eigene Erfahrungen sowohl die Klagen der beiden Frauen als auch die Intensität ihrer Freundschaft nachvollziehen kann, für den ist es eine lohnenswerte Lektüre. Die mit Sicherheit lange nachklingt.