„Der Junge muss an die frische Luft“, von Hape Kerkeling

Bis etwas Seite Hundert ist das Buch eine durchschnittliche Biografie – nicht besonders aufregend – und wäre der Autor nicht so berühmt und hätte ich nicht vorab so viel über die Geschichte gelesen, ich hätte es womöglich weggelegt. Es war sicherlich ein Fehler, dieses Buch direkt nach dem Distelfink mit der überaus kunstvollen Schreibe von Donna Tartt zu lesen. Kerkelings Sprache ist schlicht, es gibt so gut wie kein Substantiv ohne Adjektiv („der grauhaarige, griesgrämige Wärter mit dem dicken Schlüsselbund in der sonnengegerbten Hand“), das kann auf Dauer ganz schön nerven.

Aber die zweite Hälfte entschädigt für das Durchhalten. Es ist faszinierend (und über weite Strecken auch ergreifend), wie die Jugendjahre und die Menschen, die ihn begleiten, Kerkeling prägen. Dabei geht es nicht nur um Eltern, Großeltern und die anderen Blutsverwandten, die teilweise notgedrungen in das Leben des Jungen eingreifen. Auch der weitreichende Einfluss einer Lehrerin wird deutlich; die wichtige Rolle, die die Familie seines besten Freundes einnimmt, wird erwähnt, wenn auch nicht näher beschrieben. Alle diese Verdienste um seine Person würdigt Kerkeling mit großer Dankbarkeit und viel Respekt. Mir hat es einmal mehr klargemacht, wie sehr manche Menschen unser Leben beeinflussen.

Bei Kerkeling sind es die Frauen, die seinen Lebensweg auf die eine oder andere Weise entscheidend begleiten, sei es mit unerschütterlicher Stärke und großem Lebensmut, sei es  mit genau dem Fehlen dieser Kraft und dem Schrecklichen, was daraus resultiert. (Mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten, es mag den einen oder anderen geben, der den Inhalt nicht so genau kennt). Die Männer bleiben blass im Hintergrund, die beiden Omas kommen ganz groß raus.

Mit „Ich bin dann mal weg“ hatte Kerkeling seinerzeit einen Nerv unserer Gesellschaft getroffen, indem er die Sehnsucht nach einem (zeitweisen) Ausstieg, den Wunsch nach Einssein mit der Natur und dem Ausloten der persönlichen Grenzen thematisierte. Im vorliegenden Buch lernen wir, dass er schon als Junge einmal die überaus wohltuende Wirkung eines Wanderurlaubs erfahren hat; insgesamt zeigt die Geschichte, wie unglaublich vorgezeichnet vor allem seine spätere berufliche Laufbahn schon in frühen Jahren war, wie sie im Grunde genommen zwangsläufig aus dem Erlebten resultierte. Das ist das eigentlich Interessante an diesem Buch, und dafür lohnt es sich auch, es zu lesen.

„Der Distelfink“, von Donna Tartt

Ein „Kunstraubkrimi“ (Buchreport) ist „Der Distelfink“ nur zu einem sehr geringen Teil. Auch wenn das unter dramatischen Umständen entwendete, titelgebende Bild die Klammer um die ganze Geschichte bildet, so ist das Buch doch viel viel mehr als ein Krimi. Am ehesten würde ich es als Entwicklungsroman bezeichnen.

Der dreizehnjährige Theodore besucht mit seiner alleinerziehenden Mutter ein Museum, als dort eine Bombe hochgeht, bei der viele Menschen, darunter auch seine Mutter, ums Leben kommen. Im allgemeinen Durcheinander nach der Detonation entwendet Theo das kostbare Gemälde „Der Distelfink“, ohne recht zu wissen, was er da tut – und auf was er sich damit einlässt.

Zunächst musste ich mich an die ausufernden, differenzierten Beschreibungen gewöhnen, egal, ob es sich um Milieu, Örtlichkeiten, Dialoge oder Personen handelt, alles wird in epischer Breite abgehandelt. Andererseits lässt Tartt lange meine Frage unbeantwortet, wie viele Personen die Familie seines Schulfreunds umfasst, die Theo aufnimmt, nachdem es sonst niemanden gibt, der für ihn sorgen kann, oder vielmehr will.

Vielleicht lässt Tartt uns auch über die genaue Geschwisterzahl bewusst erst einmal im unklaren, denn nichts scheint bei dieser Autorin unbeabsichtigt, der ganze Roman ist kunstvoll konstruiert und komponiert. Stets im richtigen Moment gibt es Taktwechsel – gerade hatte man genug von den immer dramatischeren Zuspitzungen oder den unzähligen Variationen ähnlicher Sachverhalte – da wechselt Tartt Schauplatz oder Tempo, gibt der Geschichte wieder eine positive Wendung, kehrt zurück zu einer liebgewonnen Figur, und wir atmen auf.

Nachdem ich mich an die ausführlichen Beschreibungen gewöhnt hatte (Tartt macht es einem mit ihrer wohlgesetzten, eleganten Sprache auch leicht ), und nach der Schlüsselszene im Museum, nach der Theos Leben rasant Fahrt aufnimmt, (und das wird auch bis zum Ende so bleiben), wollte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Die Abhängigkeit des Teenagers von Fürsorge und vor allem Liebe – beides hat er bei seiner Mutter reichlich bekommen – und seine Traumatisierung durch die Explosion beschreibt Tartt mit unglaublicher Einfühlsamkeit und Eindringlichkeit. Theos Odyssee durchs Leben und das Schicksal des verschleppten Bildes sind kunstvoll verwoben mit philosophischen Betrachtungen über das Leben und den Tod, über Zufälle, Schicksal, Vergänglichkeit, Freundschaft und Liebe.

Das Buch macht Lust auf Antiquitäten und auf eine intensive Auseinandersetzung mit Kunst, die weit über einfaches Betrachten hinausgeht. Die Personen sind allesamt sehr lebendig, besonders Mrs. Barbour (die Mutter seines Schulfreundes) und Boris (sein späterer Freund) wachsen einem ans Herz. Nicht zu vergessen Hobie, der väterliche Freund, und seine große Liebe Pippa (das Mädchen war zum Zeitpunkt der Explosion ebenfalls im Museum).

Fazit: Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen, ich habe die mehr als tausend Seiten wirklich gerne gelesen, ich kann die positiven Rezensionen nachvollziehen. Dennoch, das Buch schafft es nicht in meine Liste der Lieblingsbücher, es gibt Bücher, die mich mehr berühren.