Herzerwärmend mal wieder, diese Anne Tyler. Ich habe mir vor langer Zeit angewöhnt, beim Lesen schöne Formulierungen, kluge und bedenkenswerte Sätze mit Post-its zu markieren – dieses Buch wimmelt nun nur so von Markierungen und Zettelchen. Bei Tyler geht es immer unaufgeregt zu. Willa Drake, die Hauptperson, hat keine besonders glückliche Kindheit, da ihre Mutter immer mal wieder kurzzeitig die Familie, ihren Mann und ihre beiden kleinen Töchter, verlässt. Willa heiratet ohne rechte Überzeugung ihren Jugendfreund Derek und als der sie zwanzig Jahre später zur Witwe macht, heiratet sie Peter. Beide Männer wirken nicht besonders sympathisch, und Willas Hauptproblem ist schnell klar – sie lässt sich treiben, sie lässt andere über sich bestimmen, sie lebt nicht ihr eigenes Leben.
Die Haupthandlung setzt ein, als Willa einen Anruf aus dem weit entfernten Baltimore bekommt. Die Ex-Freundin ihres Sohnes wurde angeschossen und eine Nachbarin bittet händeringend um Hilfe – die elfjährige Tochter muss betreut werden. Willa zögert nicht und setzt sich ins Flugzeug, begleitet von ihrem eher unwilligen Mann. Vor Ort blüht Willa auf, sie fühlt sich endlich einmal gebraucht. Alle auftretenden Figuren sind kauzige Typen, mit teilweise skurrilen Eigenarten, alle liebevoll und lebensnah gezeichnet; gemeinsam mit Willa schließt man sie schnell ins Herz.
Am meisten bewundere ich Tylers Kunst, mit ganz einfachen Sätzen Gedanken und Gefühlsregungen darzustellen oder die Handlung voranzutreiben. Sie schafft es wie keine zweite, mit eingestreuten Bemerkungen dem Leser deutlich klarzumachen, wie der Mensch tickt und was für Charaktereigenschaften er hat, ohne dass sie sie explizit beim Namen nennt. Das ist hohe Kunst, damit gelingt ihr perfekt, was alle Schreibratgeber propagieren: Show, don’t tell. Die ganze Geschichte ist unspektakulär (man ahnt früh, wie es ausgeht), aber mit so viel Wärme und Herz geschrieben, dass ich einfach immerzu hätte weiterlesen können.