Brunnenstraße, Andrea Sawatzki

Das Buch hat mich ziemlich umgehauen. Ich sehe die bekannte Schauspielerin jetzt in einem anderen Licht. Als Neunjährige zieht Sawatzki mit ihrer Mutter zu ihrem bis dahin anderweitig gebundenen Vater. Mutter und Tochter freuen sich auf goldene Zeiten – die Tochter, weil sie dann endlich einen Vater hat – die Mutter, weil sie nicht mehr arbeiten muss. Sie geht davon aus, dass an der Seite des bekannten Journalisten ein Leben in Wohlstand, geordneten Verhältnissen und den Kreisen des Bildungsbürgertums auf sie wartet. Doch die Hoffnung wird bitter enttäuscht, denn der einst so erfolgreiche Mann ist zu diesem Zeitpunkt schon krank, er ist nicht mehr arbeitsfähig. 

Das Geld wird schnell knapper und die Mutter muss sich wieder einen Job suchen. So fällt der neunjährigen Andrea die Pflege des Vaters zu, der zunehmend dement, unberechenbar, jähzornig ist, immer wieder abhauen will, eigentlich kaum zu bändigen ist. Das liest sich erschütternd. Aber immer wieder blitzt auch Sawatzkis Kreativität und Unangepasstheit durch, so zum Beispiel im Umgang mit Tieren (der nicht immer gut für die Tiere ausgeht ;-). 

Sawatzki hat in einem Interview gesagt, ihre Kindheit sei in gewissem Sinne normal und auch nicht so fürchterlich gewesen, wie es vielleicht bei manchen Menschen ankommt. Ihr wäre es darum gegangen, ihre Mutter zu unterstützen und zu entlasten. Die beiden waren ein eingespieltes Team, bis der Vater sie zu sich holte. Aber diesen Bruch in ihrem Leben auszuhalten und über Jahre mit dem schwerkranken Mann, ihrem Vater, zu leben, dazu gehört schon einiges. 

Die Unvollkommenheit der Liebe, Elizabeth Strout

Je mehr ich von Strout lese, desto ergriffener bin ich. Man muss sich ihre Texte auf der Zunge zergehen lassen, ihnen lange nachspüren. Jedes Wort hat eine Bedeutung. Strout ist eine genaue Beobachterin und eine Meisterin der leisen Töne. In meinen Augen ist es perfekte Lesekreis-Literatur, denn es ist so viel darin enthalten, über das man sich austauschen könnte. Ob es wohl auch ein Buch für Männer ist? 

Strout erzählt in dem schmalen Band in kurzen Kapiteln über eine Mutter-Tochter-Beziehung. Lucy, die Tochter, muss eine längere Zeit im Krankenhaus verbringen; dort wird sie von ihrer Mutter besucht, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Man freut sich mit der Tochter über den unerwarteten Besuch, doch dann wird nach und nach immer mehr von Lucys schrecklicher Kindheit enthüllt, die von materiellen ebenso wie von emotionalen Entbehrungen sowie Ängsten vor dem Vater geprägt war. Strout erzählt das nicht als Anklage oder mit Vorwürfen, sie zeigt Verständnis für ihre Protagonisten. Sie beschreibt ein Leben, wie es viele gibt. Mit Figuren, die sich bemühen, ihr Bestes zu geben und doch so viel Schaden anrichten.

Die Passage im Krankenhaus, in der Mutter und Tochter sich über Elvis Presley austauschen, hat mich besonders berührt. Die Mutter sagt: Ach, er war bloß ein Junge aus Tupelo, Mississippi, der seine Mama liebhatte. Wie ihn Leute mit billigem Geschmack gut finden. Proleten. (…) Gesocks. Die Tochter antwortet: Wir waren auch Gesocks. Was du Gesocks nennst, das waren wir. Es ist einer der wenigen Momente, in denen die Tochter die Mutter unverblümt mit ihrer Sicht der Dinge konfrontiert. 

Mehr en passant wird Lucys Weg zur Schriftstellerin erzählt, ihre prägenden Begegnungen mit einer berühmten Autorin. Die Erfahrungen, die Lucy in einer Schreibwerkstatt macht, ermöglichen es ihr, ihr Leben so eingehend zu reflektieren. Fazit: Tiefgründig und berührend, lange nachwirkend. Strout ist einfach großartig.