Darf ein Mensch Bestehendes zerstören „zum Zweck der Erreichung von etwas Besserem“? Darf er „über Leichen und durch Blut vorwärtsschreiten, weil es zur Verwirklichung seiner Idee erforderlich ist?“ Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich der mittellose Student Raskolnikow, der Protagonist in Dostojewskis Klassiker „Schuld und Sühne“. Als den „größten Kriminalroman aller Zeiten“ bezeichnete Thomas Mann den 800-Seiten Wälzer. Ein Krimi im klassischen Sinne ist „Schuld und Sühne“ nicht, eher eine psychologische Studie eines Menschen, der einen Mord begeht und an seiner Schuld zerbricht. Also ein ähnliches Thema, wie Donna Tartt es in ihrer „Geheimen Geschichte“ behandelt, und es ist faszinierend, die beiden Romane vergleichend zu lesen.
Die Geschichte spielt in St. Petersburg in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Hauptfigur Raskolnikow begeht einen Doppelmord und rechtfertigt diese Tat mit einer abstrusen Theorie über die Einteilung von Menschen in zwei Klassen, in gewöhnliche und außerordentliche. Die gewöhnlichen Menschen stellen seiner Auffassung nach das Material für die außerordentlichen dar – hier gilt ihm Napoleon als leuchtendes Beispiel, der sich seiner Meinung nach zu recht über einen gewöhnlichen Menschen, eine „Laus“ erhebt.
Dostojewski schafft es meisterhaft, dem Leser die inneren Prozesse, die immer instabiler werdende Gemütslage und fiebrigen Zustände von Raskolnikow nach dem Mord nahezubringen. Ebenso fesselnd sind die Katz- und Maus-Spiele mit dem Untersuchungskommissar, der dem Mörder zwar die Tat nicht nachweisen kann, ihn aber an den Rand des Wahnsinns treibt.
Durchhaltevermögen ist beim Lesen angesagt, es gibt seitenlange Dialoge und einige Nebenhandlungen, die ich für mich ein wenig ausgeblendet habe, weil mich die Hauptgeschichte genug beschäftigt hat. Mein Tipp: Es macht Sinn, sich die Namen der Personen und ihre Rollen aufzuschreiben, denn es ist kaum möglich, sich deren Vielfalt in der schwierigen russischen Sprache zu merken. Und, ebenso ratsam: Das Buch möglichst zügig zu lesen. Dann gelingt es besser, in diese für uns doch recht ferne Welt einzutauchen und den zeitweise geradezu süffigen Schreibstil von Dostojewski zu genießen.