Überbitten, Deborah Feldman

Das Buch ist der Nachfolge-Band zu Unorthodox, fällt gegenüber diesem aber ab. Inhaltlich ist es ebenfalls äußerst beeindruckend , aber weniger wäre mehr gewesen. Mitunter ist es mühsam zu lesen, man vermisst ein straffes Lektorat. Ich war öfters genervt von Sätzen, die sich über eine halbe Seite ziehen. Man sollte dieses Buch sorgfältig lesen, doch durch langatmige Passagen, die man flüchtiger liest, und durch Unmengen von Details besteht die Gefahr, dass wirklich Wichtiges untergeht. Aber: Es geht um Großes, weshalb man sich fast kleinkariert fühlt, die Form zu kritisieren …

Die Geschichte setzt ein, nachdem Feldman es geschafft hat, sich aus den Zwängen der ultra-orthodoxen Satmarer Gemeinde zu befreien und unter großen Schwierigkeiten versucht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Zunächst lebt sie mit ihrem Sohn in einiger Entfernung von ihrer Gemeinde in New York, später verlässt sie die Stadt endgültig. Dazwischen liegt der Kampf um ihre Scheidung und um Befreiung von den Zwängen des Sorgerechts. Auf den Spuren ihrer Großmutter, die als einzige ihrer Familie den Holocaust überlebt hat, bereist sie Europa und ausgerechnet in Deutschland, im Land der Täter, findet Feldman ihre neue Heimat.

Immer wieder wird die ungeheure Bedeutung der Literatur bei ihrem Prozess der Loslösung und Neuorientierung betont. Bildung führt zu Freiheit und Verbesserung der Lage, das ist keineswegs eine neue Erkenntnis, aber hier wird sie so eindrücklich unter Beweis gestellt.

Ja, manchmal nervt ihr ausschweifender Erzählstil, aber Feldman ist eben auch eine gute Beobachterin. Treffend beschreibt sie den Unterschied zwischen der Caféhaus-Kultur in Europa und in den Staaten. Ich habe schnell verstanden, warum sich bei ihren täglichen Café-Besuchen in Berlin ihr Gespür für diese Stadt beständig vertieft und dort ihre ersten Freundschaften entstehen. Zum Ende hin entwickelt der Roman noch mal eine ungeheure Dichte. Ihr Schlusskapitel ist großartig. Nach einem langen und mühsamen Weg der Selbstfindung definiert sie Identität für sich: „Es ist allein die Geschichte, wie wir überhaupt dazu kamen, wir selbst zu sein, es ist nicht die Geschichte darüber, wer wir jetzt sein müssen und zu wem wir werden können.“ 

Ich habe sehr viel über jüdische Kultur gelernt, über das Selbstverständnis von Juden und über das Thema der Übertragung von Generation zu Generation. Das Buch weitet den eigenen Horizont, und es ist ohne Frage, genau wie der erste Band, sehr lesenswert. 

Deutsches Haus, Annette Hess

Dies ist kein schönes Buch. Es ist stellenweise schwer auszuhalten. Ich habe mir das Buch gewünscht, weil die Autorin für die von mir sehr geschätzten Fernsehserien Weißensee und Ku’damm die Drehbücher geschrieben hat. Vor allem die Serien Ku’damm 56 und 59 sind vorrangig nette Unterhaltung. So war ich erst schockiert, weil ich etwas anderes erwartet hatte. Ich wusste nur, es geht auch in diesem Buch um deutsche Geschichte. Es geht um DEN Teil deutscher Geschichte – den Teil, der so unfassbar schrecklich ist, dass es fast unmöglich ist, Worte dafür zu finden. 

So fühlt sich auch die Protagonistin Eva, die im Auschwitzprozess 1963 die Zeugenaussagen übersetzen muss. Sie ahnt nicht, wie dramatisch sich auch ihr eigenes Leben durch die Teilnahme an diesem Prozess verändern wird. Auch ihre Beziehungen zu den Menschen, die ihr etwas bedeuten, stehen auf dem Prüfstand. Da ist Jürgen, von dem sie sich so sehr den Heiratsantrag wünscht. Jürgen ist extrem verklemmt und lange uneindeutig in Bezug auf Eva. Er weiß nur, dass sie sich von ihm führen lassen soll. Es ist immer wieder erschreckend über die Rolle der Frau in den 60er Jahren zu lesen. Ganz selbstverständlich bestimmt der Mann, sogar der Verlobte!, über die Berufstätigkeit der Frau und was ihr zusteht und was nicht. (Erst 1977 benötigen Frauen in Deutschland offiziell nicht mehr das Einverständnis ihres Mannes, wenn sie arbeiten wollen, das musste ich mir mal wieder klarmachen!) Evas Beziehung zu Jürgen ist aber nicht nur aus diesen Gründen für mich schwer nachvollziehbar. Auch mit der Rolle von Evas Schwester habe ich mich schwergetan – es wäre schön, sich hierüber mit anderen Lesern auszutauschen! Am dramatischsten ist Evas Beziehung zu ihren Eltern, die sich merkwürdig verschlossen und ablehnend zeigen, als Eva diesen beruflichen Auftrag annimmt. Langfristig stürzt Eva das in ein emotionales Chaos.

Das gigantische Ausmaß der Verdrängung in der Nachkriegszeit wird in diesem Buch sehr eindringlich dargestellt. Die Themen sind also nicht schön, aber sie sind überaus wichtig und bedeutend, und das Buch ist unbedingt  lesenswert. Ganz zum Schluss, im vorletzten Absatz, gibt es einen sehr schönen Satz. Den verrate ich hier natürlich nicht …