Ein sehr ungewöhnliches „Hobby“ gibt diesem Roman seine Struktur: Die 55-jährige Protagonistin Annabelle arbeitet permanent an Collagen, für die sie vielfältige und unterschiedlichste Materialien verwendet. Bei der Beschaffung dieser lässt sie auch schon mal etwas mitgehen oder zerschneidet sündhaft teure Klamotten. Das wirkt zunächst befremdlich. (Ihre Mutter pflegte zu sagen: „dieses Kind ist nicht ganz bei Trost, nicht ganz bei Trost ist dieses Kind.“) Aber das Collagieren hilft Annabelle, sich zu beruhigen und dem schwierigen Gefüge ihrer eigenen Familie besser auf die Spur zu kommen, ist also weit mehr als ein Hobby. So hat man Annabelle während der gesamten Lektüre ständig vor Augen, wie sie klebt, schneidet, arrangiert, zusammenfügt, schiebt und schichtet. Und immer besser konnte ich mir vorstellen, dass das hilft, um klarer zu sehen.
Es geht um das Thema Familie, genauer gesagt, um die Beziehung einer Mutter (Annabelle) zu ihren Töchtern. Alle drei sind erwachsen, man könnte also meinen, Annabelle hätte die Mühen und Sorgen des Kindergroßziehens lange hinter sich gelassen. Aber die jüngste Tochter Cora gibt ständig Anlass zur Sorge; sie hat ihren Platz im Leben noch nicht gefunden, kämpft mit Drogen und ist psychisch instabil, lebt häufig auf der Straße in Berlin. Über längere Strecken verweigert sie jeglichen Kontakt zur Mutter. Annabelle lebt, von ihrem Mann getrennt, ein paar Monate in Kopenhagen und lernt dort im Englisch-Kurs Rose kennen. Die junge Frau macht einen etwas sonderbaren Eindruck und hat offensichtlich ebenfalls Erfahrung mit Drogen. Doch ausgerechnet die freakige Rose schafft es, eine Art von Zugang zu Annabelles Tochter Cora zu finden. Das bedeutet aber auch einen schmerzlichen Lernprozess für Annabelle, die akzeptieren muss, dass ihr Einfluss begrenzt ist. Und oft gänzlich unerwünscht.
Was bedeutet es, eine Familie zu haben? Die Autorin beantwortet die ihr im Interview gestellte Frage so: „Familie bedeutet einen Reichtum an Emotionen und Erfahrungen.“ So empfinde ich dieses Buch auch. Man leidet mit Annabelle, freut sich mit ihr und teilt mit ihr ein Leben, das anders verläuft als erhofft, aber immer für eine Überraschung gut ist. Ein interessantes Buch, nicht zuletzt wegen der Verknüpfung des Collagierens mit den Verwerfungen in einer Familie.