„Der Distelfink“, von Donna Tartt

Ein „Kunstraubkrimi“ (Buchreport) ist „Der Distelfink“ nur zu einem sehr geringen Teil. Auch wenn das unter dramatischen Umständen entwendete, titelgebende Bild die Klammer um die ganze Geschichte bildet, so ist das Buch doch viel viel mehr als ein Krimi. Am ehesten würde ich es als Entwicklungsroman bezeichnen.

Der dreizehnjährige Theodore besucht mit seiner alleinerziehenden Mutter ein Museum, als dort eine Bombe hochgeht, bei der viele Menschen, darunter auch seine Mutter, ums Leben kommen. Im allgemeinen Durcheinander nach der Detonation entwendet Theo das kostbare Gemälde „Der Distelfink“, ohne recht zu wissen, was er da tut – und auf was er sich damit einlässt.

Zunächst musste ich mich an die ausufernden, differenzierten Beschreibungen gewöhnen, egal, ob es sich um Milieu, Örtlichkeiten, Dialoge oder Personen handelt, alles wird in epischer Breite abgehandelt. Andererseits lässt Tartt lange meine Frage unbeantwortet, wie viele Personen die Familie seines Schulfreunds umfasst, die Theo aufnimmt, nachdem es sonst niemanden gibt, der für ihn sorgen kann, oder vielmehr will.

Vielleicht lässt Tartt uns auch über die genaue Geschwisterzahl bewusst erst einmal im unklaren, denn nichts scheint bei dieser Autorin unbeabsichtigt, der ganze Roman ist kunstvoll konstruiert und komponiert. Stets im richtigen Moment gibt es Taktwechsel – gerade hatte man genug von den immer dramatischeren Zuspitzungen oder den unzähligen Variationen ähnlicher Sachverhalte – da wechselt Tartt Schauplatz oder Tempo, gibt der Geschichte wieder eine positive Wendung, kehrt zurück zu einer liebgewonnen Figur, und wir atmen auf.

Nachdem ich mich an die ausführlichen Beschreibungen gewöhnt hatte (Tartt macht es einem mit ihrer wohlgesetzten, eleganten Sprache auch leicht ), und nach der Schlüsselszene im Museum, nach der Theos Leben rasant Fahrt aufnimmt, (und das wird auch bis zum Ende so bleiben), wollte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Die Abhängigkeit des Teenagers von Fürsorge und vor allem Liebe – beides hat er bei seiner Mutter reichlich bekommen – und seine Traumatisierung durch die Explosion beschreibt Tartt mit unglaublicher Einfühlsamkeit und Eindringlichkeit. Theos Odyssee durchs Leben und das Schicksal des verschleppten Bildes sind kunstvoll verwoben mit philosophischen Betrachtungen über das Leben und den Tod, über Zufälle, Schicksal, Vergänglichkeit, Freundschaft und Liebe.

Das Buch macht Lust auf Antiquitäten und auf eine intensive Auseinandersetzung mit Kunst, die weit über einfaches Betrachten hinausgeht. Die Personen sind allesamt sehr lebendig, besonders Mrs. Barbour (die Mutter seines Schulfreundes) und Boris (sein späterer Freund) wachsen einem ans Herz. Nicht zu vergessen Hobie, der väterliche Freund, und seine große Liebe Pippa (das Mädchen war zum Zeitpunkt der Explosion ebenfalls im Museum).

Fazit: Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen, ich habe die mehr als tausend Seiten wirklich gerne gelesen, ich kann die positiven Rezensionen nachvollziehen. Dennoch, das Buch schafft es nicht in meine Liste der Lieblingsbücher, es gibt Bücher, die mich mehr berühren.

 

„Eisblaue See, endloser Himmel“, von Morgan Callan Rogers

Eine ursprünglich nicht auf Fortsetzung angelegte Geschichte weiterspinnen und einen zweiten Band schreiben, kann das gut gehen? Das war die Frage, die ich mir gestellt habe, als ich dieses Buch gelesen habe. Von dem ersten Roman („Rubinrotes Herz, eisblaue See“ – die Titelähnlichkeit ist natürlich gewollt, macht einen aber etwas kirre) war ich begeistert, ihr erinnert euch?
Also, Florines Geschichte geht weiter: Aus dem elfjährigen Mädchen, das seine Mutter verlor, ist inzwischen eine junge Frau geworden, die mit dem Mann ihrer Träume verheiratet ist und in kurzer Folge zwei Kinder bekommt. Das mitunter recht turbulente Familienleben (wie das halt so ist mit zwei kleinen Kindern) wird ausführlich beschrieben.

Ein wenig Fahrt nimmt die Geschichte auf, als Briefe auftauchen, die ein neues Licht auf das mysteriöse Verschwinden von Florines Mutter vor knapp zehn Jahren werfen.
Aber die Lösung des Falls trägt für mich nicht über so viele (456!) Seiten. Natürlich geht es auch um anderes: Die Autorin beschreibt sehr anschaulich und mit viel Herz die Probleme, mit denen das junge Ehepaar zu kämpfen hat – aber für mich sprang der Funke dieses Mal nicht über. Es fehlen die unverwechselbaren Charaktere des ersten Bands, und auch die Bildsprache begeistert mich nicht mehr so sehr. Der Roman ist nett, er lässt sich einfach so weg lesen und wenn man „Rubinrotes Herz, eisblaue See“ gelesen hat, mag es Spaß machen, ein paar bekannte Gesichter wieder zu treffen und zu erfahren, was es mit dem Verschwinden von Carlie (Florines Mutter) auf sich hatte – aber meines Erachtens hätte die Autorin besser daran getan, sich nicht auf eine Fortsetzung einzulassen. Ein wenig hat nun auch der ursprüngliche Roman, der erste Band, an Glanz für mich verloren. Also: Nicht unbedingt empfehlenswert!

Jetzt lese ich „Der Distelfink“, von Donna Tartt. Gut tausend dicht beschriebene Seiten, es wird etwas dauern, bis ich mich wieder melde …