Greta Silver, Wie Brausepulver auf der Zunge

Ich habe dieses Buch gern gelesen, aber ich bin hin- und hergerissen, wie ich es hier vorstellen soll. „Das Alter ist die tollste Zeit des Lebens,“ sagt Greta Silver auf knapp 200 Seiten. Sie ist gesund, sie sieht absolut super aus, sie ist erfolgreich, sie hat das nötige Kleingeld für ein angenehmes Leben im Alter. Sagt sich das dann nicht schnell: „Lebensfreude ist eine Entscheidung – wir sind nicht hilflos den Lebensumständen ausgeliefert.“ Und ist es dann nicht leicht, alles so rosarot zu sehen? Zum Beispiel, wenn es um die (erwiesene) Macht der Gedanken geht. Silver rät, kurz und bündig: „Denke ausschließlich Positives.“ Sei der „Chef in Deiner Schaltzentrale.“ Mit diesem Appell fürs positive Denken schwimmt sie auf der Erfolgswelle zu diesem Thema. (Beim Googeln „Literatur zum positiven Denken“ erscheinen 804.000 Ergebnisse!) Die Wissenschaft kann die körperlichen und seelischen Vorteile einer optimistischen Lebenshaltung nachweisen. Doch krampfhafter Optimismus und der verzweifelte Versuch, negative Gedanken und Gefühle aus dem Leben herauszuhalten, sind auch nicht gesund. Und lassen jemanden, der sich – aufgrund schlechter Bedingungen – schwer tut, die Dinge positiv zu sehen, womöglich noch schlechter fühlen. Wo es doch angeblich so einfach ist, „mit spielerischer Leichtigkeit das Glück im Leben zu entdecken“. (Klappentext) Wie liest dieses Buch jemand, der krank ist oder finanziell kaum über die Runden zu kommen weiß? So weit die kritischen Gedanken. 

Warum habe ich das Buch dennoch gerne gelesen? Es gibt sehr viele gute Anregungen, lauter Dinge, die man eigentlich weiß, aber die einem doch immer wieder entgleiten und an die man sich gern erinnern lässt. Silver greift die gängigen Themen auf: Umgang mit Schuldgefühlen, blockierende Glaubenssätze, Selbstzweifel, Jammern als Energieräuber, Neid, Disziplin. Und es tut gut, sich einfach (mal) hineinfallen zu lassen in ihre Art, das Leben anzupacken und sich von ihrer Begeisterung und Lebensfreude anstecken zu lassen. Natürlich, sie hat super Bedingungen und Talent fürs Glück. Aber sie hat auch Beachtliches gestemmt in ihrem Leben und auch bei ihr war nicht immer eitel Sonnenschein. Man nimmt ihr ab, dass sie sich bei allem, was ihr (an Negativem) passierte, die Frage stellte: War das jetzt wirklich so schlimm? Und diese Frage in der Regel mit Nein, das war es nicht  beantwortete. Diese Anregung gefällt mir sehr gut.

Dass das Alter eine tolle Zeit sein kann, dem würde ich ohne zu zögern zustimmen. Es fallen viele Beschränkungen weg, man hat viel mehr Freiheiten (wenn man gesund und gut situiert ist …) Sich etwas von ihrem Schwung mitzunehmen und Sorgen, Ängste und Zweifel energischer abzuwehren, den positiven Gedanken mehr Raum zu geben, das Leben mehr zu genießen, dazu inspiriert das Buch auf jeden Fall. 

„Warten auf Bojangles“, von Olivier Bourdeaut

Was für ein Kontrastprogramm zum zuletzt hier vorgestellten Buch „Schlafen werden wir später“! 158 Seiten gegenüber 683 Seiten. Kurz, knapp, irreal das eine – langatmig, ausschmückend, realistisch das andere. Zermürbender Alltag gegen Lebensfreude pur. Voller Phantasie und Poesie beide. Bei einem ersten Lektüre-Versuch von „Bojangles“ vor ein paar Monaten hatte ich aufgegeben, ich hatte die Geschichte seinerzeit als zu skurril und abgedreht empfunden. Und jetzt?

Die Geschichte ist nicht nur besonders phantasievoll, sie ist verrückt, voller Lebenslust, voll überschäumender Begeisterung, unbändiger Trauer und  feinem Humor. Erzählt wird, mal aus Sicht des Vaters, mal aus Sicht des Sohnes, über die Ehefrau und Mutter (der der Vater ständig neue Namen gibt). Sie ist krank, das wird schnell klar. Hysterie, Bipolarität, Schizophrenie – so benennen es die Ärzte. Doch die kleine Familie will es nicht hören, nicht wahrhaben, nicht durchdringen lassen in den bisher gelebten Alltag voller Phantasie, Originalität und überschäumender Lebensfreude. Sie greift zu rabiaten Mitteln …

Auch in diesem Buch wird geweint: „Sie zog sich dann zurück und weinte und weinte und konnte gar nicht mehr aufhören, wie wenn man am Berg zu viel Schwung hat – “. „Sie war untröstlich, zwischen ihren Problemen und ihr war kein Fingerbreit für uns, der Platz war uneinnehmbar.“ Das ist kurz und knapp formuliert und geht doch so zu Herzen. Achtung: Das Ende ist unglaublich traurig und doch von einer solch stillen Heiterkeit durchzogen, dass ich erst lächeln und dann sogar lachen musste. Das Lachen blieb mir dann aber doch im Hals stecken. Es ist ein kleines Meisterwerk, dieses Büchlein. Und  typisch französisch.

Ich danke meinem Freund Wolter für diesen Tipp und gebe hiermit seine Anregung weiter, parallel zum Lesen „Mister Bojangles“ zu hören, meiner Meinung nach am schönsten von Sammy Davis Jr. gesungen. Und von mir kommt der Tipp, zunächst weggelegten Büchern zu einem späteren Zeitpunkt noch mal eine Chance zu geben! Und noch ein Tipp: Der Blog Ohrenschmaus hat sich dem Buch „Warten auf Bojangles“ – und natürlich dem Song „Mister Bojangles“ – von der musikalischen Seite genähert – auch lesens- und natürlich hörenswert, hier.