„Der Grund“, von Anne von Canal

Und wieder einmal ein Buch, an dem man dranbleiben sollte. Ich habe mehrmals unterbrochen, das hat den Genuss doch sehr geschmälert. Es ist eine sehr geschickt konstruierte Geschichte, die auf verschiedenen Zeitebenen spielt und innerhalb einer Ebene zusätzlich mit Rückblenden und Einschüben arbeitet; zudem werden häufig neue Namen ins Spiel gebracht, was mich manchmal verwirrt hat – aus oben genanntem Grund.
Die zweite Hälfte habe ich in einem Rutsch gelesen, und dann hat die Geschichte einen regelrechten Sog auf mich ausgeübt. Laurits, ein Junge aus guter Stockholmer Familie, liebt das Klavierspiel. Mithilfe der Musik gelingt es ihm, seiner etwas überspannten Mutter und vor allem dem despotischen Vater zu entfliehen. Laurits möchte unbedingt Konzertpianist werden. Doch es kommt anders, und er ergreift den Arztberuf, der ihn sehr erfüllt. Mit seiner Frau Silja findet er das große Glück, was durch die gemeinsame Tochter Liis gekrönt wird. So weit zum Inhalt, wie er auch auf dem Klappentext zu finden ist.

Das Buch beginnt mit einem (nicht so genannten) Prolog: mit dem tragischen Untergang eines Passagierdampfers (wann und wo bleibt offen). Dann springt die Geschichte zu Laurits, der sich nun Lorenzo bzw. Lawrence nennt und von seiner Tätigkeit als Pianist auf einem Kreuzfahrtschiff berichtet. Erst nach und nach wird enthüllt, auf welch verschlungenen Wegen und mit wie vielen Wendungen das Leben ihn dort hingespült hat. Mehr möchte ich von der Geschichte nicht verraten – nur so viel: Musik und Meer spielen eine tragende Rolle.
Die Lektüre lohnt sich, Anne von Canal ist ein sehr unterhaltsamer, gleichzeitig aber auch zum Nachdenken anregender, bewegender Roman gelungen. Die Sprache ist bildreich, mit musikalischem Ton. „Der nächste Donner kam fast zeitlich mit dem Blitz, und es klang, als würde ein Hochhaus einstürzen. Dann schlitzte jemand mit einem langen Messer die Wolken auf, und der Regen brach los.“
„Der Grund“ spielt mit Fragen, die wir uns alle schon einmal gestellt haben – was wäre gewesen, wenn ich seinerzeit einen anderen Weg gegangen wäre? Wie viele Neuanfänge im Leben sind möglich? Was ist ein gutes Leben?

„Zerbrechlich“, von Jodi Picoult

Jodi Picoult ist auch so eine Vielschreiberin. Ich habe fast alle Romane von ihr gelesen. „Zerbrechlich“ hat mich sehr an ihr Buch „Im Namen meiner Schwester“ erinnert, das ich seinerzeit faszinierend fand, auch aufgrund der Perspektivwechsel: Alle Personen im Umfeld der Hauptperson schildern abwechselnd ihre Sicht der Dinge. Auch in „Zerbrechlich“ arbeitet Picoult mit diesem stilistischen Element.
In der vorliegenden Geschichte geht es um das Mädchen Willow, das mit der Glasknochenkrankheit (Osteogenesis imperfecta, kurz OI) auf die Welt gekommen ist. Ständig läuft Willow Gefahr, sich Knochen zu brechen, an ein normales Leben ist nicht zu denken. Naturgemäß dreht sich im überaus schwierigen Alltag der Familie alles um dieses kranke Kind; Amelia, die gesunde ältere Schwester wird von den Eltern nahezu übersehen. Als die Idee aufkommt, dass man die Gynäkologin auf ungewollte Geburt verklagen könnte (wir bewegen uns im amerikanischen Rechtssystem!), erhofft sich die Mutter Charlotte von der Klage eine hohe finanzielle Entschädigung, mit der sie die immensen Kosten für die Krankheit ihrer Tochter besser decken könnte. Die Sache hat aber einen entscheidenden Haken, die Gynäkologin ist Charlottes beste Freundin, auch die Töchter der beiden sind eng befreundet. Ein weiteres Problem: Charlotte müsste vor Gericht lügen, sie müsste so tun, als hätte sie ihre Tochter niemals bekommen, wenn man sie in der Schwangerschaft rechtzeitig auf die Krankheit aufmerksam gemacht hätte. Harter Tobak, aber Charlotte reicht die Klage ein …
Picoult hat es echt drauf, Spannung zu erzeugen, und sie greift immer hochinteressante Themen auf. Dennoch bin ich mit diesem Buch nicht ganz glücklich. Abgesehen davon, dass es sehr amerikanisch ist, finde ich es auch etwas glatt, etwas zu konstruiert und auf Wirkung hin konzipiert. Auch ihr bevorzugter Satzbau (eingeschobenes Verb bei wörtlicher Rede) hat mich dieses Mal etwas genervt: „Weißt du Charlotte“, sagte sie sanft, „mir auch.“

„Zerbrechlich“ ist bis zum Ende hin spannend, man fragt sich nicht nur, wie das Urteil ausfallen wird, sondern auch, ob das Auseinanderbrechen der Familie noch verhindert werden kann. Wer also gerne psychologisch spannende Unterhaltung liest, ist hier richtig. Ich habe vielleicht zu viel Picoult gelesen, oder es erinnerte mich zu sehr an „Beim Leben meiner Schwester“. Bei mir bleibt ein leicht schales Gefühl zurück.