„Eisblaue See, endloser Himmel“, von Morgan Callan Rogers

Eine ursprünglich nicht auf Fortsetzung angelegte Geschichte weiterspinnen und einen zweiten Band schreiben, kann das gut gehen? Das war die Frage, die ich mir gestellt habe, als ich dieses Buch gelesen habe. Von dem ersten Roman („Rubinrotes Herz, eisblaue See“ – die Titelähnlichkeit ist natürlich gewollt, macht einen aber etwas kirre) war ich begeistert, ihr erinnert euch?
Also, Florines Geschichte geht weiter: Aus dem elfjährigen Mädchen, das seine Mutter verlor, ist inzwischen eine junge Frau geworden, die mit dem Mann ihrer Träume verheiratet ist und in kurzer Folge zwei Kinder bekommt. Das mitunter recht turbulente Familienleben (wie das halt so ist mit zwei kleinen Kindern) wird ausführlich beschrieben.

Ein wenig Fahrt nimmt die Geschichte auf, als Briefe auftauchen, die ein neues Licht auf das mysteriöse Verschwinden von Florines Mutter vor knapp zehn Jahren werfen.
Aber die Lösung des Falls trägt für mich nicht über so viele (456!) Seiten. Natürlich geht es auch um anderes: Die Autorin beschreibt sehr anschaulich und mit viel Herz die Probleme, mit denen das junge Ehepaar zu kämpfen hat – aber für mich sprang der Funke dieses Mal nicht über. Es fehlen die unverwechselbaren Charaktere des ersten Bands, und auch die Bildsprache begeistert mich nicht mehr so sehr. Der Roman ist nett, er lässt sich einfach so weg lesen und wenn man „Rubinrotes Herz, eisblaue See“ gelesen hat, mag es Spaß machen, ein paar bekannte Gesichter wieder zu treffen und zu erfahren, was es mit dem Verschwinden von Carlie (Florines Mutter) auf sich hatte – aber meines Erachtens hätte die Autorin besser daran getan, sich nicht auf eine Fortsetzung einzulassen. Ein wenig hat nun auch der ursprüngliche Roman, der erste Band, an Glanz für mich verloren. Also: Nicht unbedingt empfehlenswert!

Jetzt lese ich „Der Distelfink“, von Donna Tartt. Gut tausend dicht beschriebene Seiten, es wird etwas dauern, bis ich mich wieder melde …

„Rubinrotes Herz, eisblaue See“, von Morgan Callan Rogers

Anrührend, witzig, tragisch, ergreifend, spannend – was lässt sich Besseres über einen (Unterhaltungs-)Roman sagen? Das Buch erzählt die Geschichte der elfjährigen Florine, die mit ihrer Familie ein unbeschwertes Leben in einem Fischerdorf an der Küste von Maine führt. Doch dann verschwindet ihre Mutter Carlie spurlos, und von jetzt auf gleich ist nichts mehr, wie es war. Man bangt und hofft mit Florine, begleitet sie bei ihren Nachforschungen und leidet mit ihr, wenn wieder einmal eine Spur ins Leere führt. Um sie herum kehren alle nach und nach in den Alltag zurück, doch Florine wehrt sich nach Kräften dagegen.
Die Jahre vergehen, Florine wird langsam erwachsen, mit allem, was dazugehört. Sie muss noch mehr Schicksalsschläge verkraften, aber am Ende gewinnt sie auch etwas sehr Kostbares. Das ist mit so viel Humor, Menschlichkeit und Einfühlsamkeit beschrieben, dass es einem ganz warm ums Herz wird. Alle Charaktere sind stark und differenziert gezeichnet. Ich fühlte mich ruckzuck als Teil der kleinen Dorfgemeinschaft im wunderschönen Neuengland.

Und die Bilder, die die Autorin findet, sind einfach umwerfend:
„… mit einer Stimme, die so tief war, dass sie über den Boden zu schleifen schien.“
„Weil meine Augen sich anfühlten, als hätte jemand Ziegelsteine draufgelegt.“
„Meine Gedanken rutschten durcheinander wie Pantoffeln auf gebohnerten Dielen.“
„Als sie hinausging, färbte sich ihr Kielwasser schwarz, dann mischten sich Grau- und Weißtöne darunter.“
„Nadelspitze Türme“, „schneespitzige Berge“, „katzenbucklige Inseln.“

Drei Jahre ist es her, dass ich den zauberhaften (Entwicklungs-)Roman über Florine gelesen und genossen habe. Der Titel wurde ein Bestseller in Deutschland. Jetzt ist eine Fortsetzung erschienen. Da drängt sich sofort die Frage auf, kann das gut gehen? Ist Florines Geschichte nicht auserzählt? Hat die Autorin nur dem Drängen des Verlags nachgegeben, der erneut gute Absatzzahlen witterte?
Der Nachfolgeband heißt „Eisblaue See, endloser Himmel.“ Ich lese ihn gerade und werde berichten …

„Aller Liebe Anfang“, von Judith Hermann

Hoch gelobt, viel dekoriert – ein Buch von Judith Hermann liest man nicht einfach mal so. Ich lese es mit Respekt, Ehrfurcht – und da ich mich inzwischen selber schriftstellerisch versuche, mit einer gewissen Beklommenheit. Thema des Romans ist die Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit des Glücks. Die Hauptperson Stella, Ehefrau und Mutter einer Tochter, die mit ihrer kleinen Familie ein alltägliches, zufriedenes Leben in einem Vorort führt, wird gestalkt. Von einem Mister Pfister; für mich ein genialer Name, fast lächerlich, konkret und doch anonym, scharf und spitz, mit der Assoziation „finster“.

Die Autorin stellt Fragen, die sie geschickt mit der sich langsam entwickelnden Stalking-Geschichte verknüpft – warum haben wir uns festgelegt – auf den einen Mann, auf Kinder, auf dieses eine Leben? Lange Zeit bleibt etwas in der Schwebe, warum ist Stella so unentschlossen, ambivalent Mister Pfister gegenüber, ärgert sich fast, als er sie im Supermarkt bei der ersten persönlichen Begegnung ignoriert? Welche Lücke füllt er in ihrem Leben, welchem Sehnen gibt er Nahrung?

Dann zieht sich die Schlinge zu, erst unmerklich, dann Schlag auf Schlag. Mehrere kurze Kapitel hintereinander erhöhen das Tempo, als retardierendes Moment wird die friedlich im Sandkasten spielende Tochter dazwischengeschoben, aber es vermag einen nicht wirklich zu beruhigen, zumal am Ende dieses superkurzen Kapitels die Falle endgültig zuschlägt; man hängt am Haken, und Stella nun eindeutig auch.

Die Sprache ist zart und fein, deutet vieles nur an, aber sie ist auch genau und unerbittlich. Nach der beschriebenen Zuspitzung des Konflikts wird die Person des Mister Pfister konkreter. Stella stellt sich vor, wie er aufwacht, wie er wohnt, lebt und verworrenes Zeug denkt. Sie besucht ihn. Wie wird das enden? Das ist durchaus spannend, und es treibt mich, weiter zu lesen. Aber immer wieder gibt es Passagen, die ich eigentlich langsamer lesen möchte, zum Beispiel, wenn Stella (sie ist Altenpflegerin) bei ihren eigenwilligen Patienten ist. Es ist kein Buch für die überfüllte S-Bahn; es verdient konzentriertes Lesen mit Raum zum wirken lassen. Dann ist es eine sehr lohnende Lektüre.